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Kultur: Eure Freiheit, unsere Last

Alte Ideale, neue Schulden: In allen Sektionen, vor allem im FORUM, fragen Filme: Wie wollen wir leben? Und wie halten wir es mit den Entwürfen der Eltern?

Sie heißt Hemel, wie Himmel, und macht gern Party. Fast jede Nacht schleppt sie einen anderen ab, probiert Sex aus wie andere Leute Klamotten, rasiert sich die Schamhaare, kriegt nie genug, manchmal ist es die Hölle. Genau wie ihr Vater, denkt man schnell, denn der coole Kunsthändler wechselt die Partnerinnen so häufig, dass sich auf seiner Party mehrere Ex-Frauen über den Weg laufen. Hemel sagt Mama zu ihnen, es ist ein Spiel, das Kind steckt auch noch in ihr. Gern balgt sie sich mit dem Vater – bis sie sich in einen verliebt, der so alt ist wie er: „Hemel“ von Sacha Polak, ein niederländischer Debütfilm im Forum.

Wie wollen wir leben? Wie halten wir es mit den Eltern und ihren Lebensentwürfen? Darum geht es in zahlreichen Beiträgen der 62. Berlinale, quer durch die Sektionen. Erwachsene Kinder, die auf Besuch zu Mama und Papa in die Provinz fahren, Väter und Söhne, auf sich selbst gestellte Kinder: Im Wettbewerb erzählen Hans-Christian Schmid („Was bleibt“") und Billy Bob Thornton („Jayne Mansfield’s Car“) Familiengeschichten. In Matthias Glasners Schuld-Drama „Gnade“ spielt die Sicht des halbwüchsigen Sohns auf seine Eltern eine wichtige Rolle. In Stephen Daldyrs Verfilmung des 9/11-Romans „Extrem laut und unglaublich nah“ trauert der kleine Oskar auf seine Weise über den Verlust seines Vaters. Und unter den Generationen-Beziehungskisten im Panorama sind allein die resolute Migranten-Mutter und ihr chaotischer Filmemacher-Sohn in „La vièrge, les coptes et moi“ eine Nummer für sich.

Ende der neunziger Jahre hatten sich rund um Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ die Geschichten gehäuft, in denen die 68er-Kinder ihren Eltern Verantwortungslosigkeit und Herzenskälte vorwarfen. Die Zeit der Vorwürfe scheint vorbei, sie ist einer Atmosphäre der Ratlosigkeit gewichen. Der Blick auf die Hippie-Eltern ist milder geworden. Auch wenn er den Egoismus nicht beschönigt, der mit der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen einhergeht.

In Axel Peterséns schwedischem Forumsfilm „Avalon“ sind es die Älteren, die ständig Party machen. Sie eröffnen den x-ten Nachtclub, machen krumme Geschäfte, tanzen zum „Avalon“-Song von Roxy Music, saufen, fahren Cabrio, rauchen Joints. Selbst als ein Schwarzarbeiter vom Dach fällt und seine Leiche weggeschafft werden muss, driften sie weiter durchs Leben, stehlen sich davon. Es sind keine Altlinken, bestenfalls Altrocker, Provinz-Existenzen ohne Ideologie. Der Film verteufelt das nicht, entschuldigt es nicht, er zeigt nur, wie anstrengend das Leben ohne Koordinatensystem sein kann.

Auf den ersten Blick ähnelt das dem Mikrokosmos im tschechischen Film „A Night Too Young“. Zwei kleine Jungs geraten am Neujahrstag beim Rodeln an ihre junge Lehrerin Katerina und deren beiden Freunde. Für eine Nacht landen sie in Katerinas Wohnung und verfolgen mit stillem Staunen die leeren Rituale der Erwachsenen. Wodka, Zigaretten, Flirt, Sex, Eifersucht, Langeweile, irgendwann sitzt ein Polizist im Küchentisch. Im eindringlichen Blick der Kinder spiegelt sich die Freudlosigkeit der Großen. Anders als „Avalon“ verdichtet sich die tschechische Nacht zur Allegorie auf eine Gesellschaft, die mit der eigenen Freiheit fremdelt. Am Morgen erwachen sie wie nach einem kalten Rausch.

Auch in „Formentera“, dem zweiten Spielfilm von Ann-Kristin Reyels (ihr Debüt „Jagdhunde“ lief 2007 im Forum), haben sich die Eltern für ein Leben in Sorglosigkeit entschieden. Vor Jahren ist die Mutter mit Freunden nach Formentera ausgewandert, eine Variante der Toskana-Fraktion. Auch das eine Reise von Berlin weit weg zu den Eltern, zu selbstzufriedenen, etwas skurrilen Alt-68ern. Die alten Ideale schimmern noch durch, man denkt über eine Firma für Solarenergie nach. Die Liebe des jungen Paars ist schon zerschlissen, die Tochter Nina (Sabine Timoteo) hält am Berliner Lebensmodell fest, ihr Mann liebäugelt mit dem Lebensentwurf der Insulaner. Wieder eine Party, eine trunkene Nacht, eine verschwundene Schwimmerin, die Älteren scheren sich nicht drum – Ignoranz oder Freiheitsliebe? Trotz Leistungsdruck, Zukunftsangst und Kleinfamilien-Alltag kann Nina mit der Freiheit, die die Eltern sich genommen haben, wenig anfangen. In seinen besten Momenten steht „Formentera“ so ratlos vor den Alternativen wie seine Protagonistin.

Die Jungen, eine bedrängte, verunsicherte Generation. Oder sind es Luxusgeschöpfe, die an die Hand genommen werden wollen? Eine lautlose Spannung überzieht die Bilder, auffallend still sind die Filme, auffallend hager und bleich ihre Protagonisten. Hemel, Katerina, Nina, die blassen Gesichter der tschechischen Jungs: labile, angefasste Gestalten, kein bisschen robust. Sie bringen die Verstörung in einer oft kantigen Körperlichkeit zum Ausdruck, in latenter, selten offener Aggression.

Auch der junge Performer in Przemyslaw Wojcieszeks etwas prätentiösem Psychodrama „Secret“ aus Tschechien ist ein knochiger Typ, eine Dragqueen mit weißgefärbtem Haar, die ins Landhaus zum geliebten Großvater kommt. Opa war ein Nazi, hat er die jüdischen Vorbesitzer getötet? Der Enkel will es wissen, er läuft nackt über die Felder, Fische werden ausgenommen, Haus und Grundstück auf den Kopf gestellt. Die zweite Generation der Nachgeborenen gerät an die Grenzen des Verstehens. Der Enkel und seine Journalisten-Freundin lassen nicht locker, aber er bricht nicht mit dem Großvater, schrubbt ihm den Rücken und lässt sich von ihm massieren. Er sagt: Meine Liebe zu dem Alten ist alles, was ich habe.

So schlagen sich die Jungen mit den Hinterlassenschaften der Älteren herum, ob es nun linke Ideale sind, Verbrechen, die nicht verjähren, oder die Schulden, die die lebenslustige Mutter in Kim Joong-Hyums koreanischem Beitrag „Choked“ ihrem Sohn hinterlässt, bevor sie sich aus dem Staub macht. Der Sohn will alles richtig machen, alle Erwartungen erfüllen, die des Chefs, der Verlobten, der Schuldeneintreiber. Er hat keine Chance.

„Choked“ spielt in einer hinter Statussymbolen und Wohlstandsfassaden erstarrten Gesellschaft, deren Opfer sich quer durch die Jahrgänge ausmachen lassen, bei den geschiedenen Müttern wie bei den Kindern. Am Ende muss der Sohn sich blutig geschlagen geben: Sinnbild einer Generation, die überall auf der Welt von der Schuldenkrise eingeholt wird.

Flüchten oder bleiben? Gemeinsinn oder Eigensinn? Wer ist wichtiger, meine Kinder oder der kranke Vater? „La demora“ von Rodrigo Plá aus Uruguay beginnt damit, dass die Tochter ihrem dementen Vater beim Duschen hilft. Noch eine Szene, in der einem Alten der Rücken geschrubbt wird, die Tochter tut es eilig, unwirsch, aber mit einer Gründlichkeit, die Zuneigung verrät. Vor der Badezimmertür quengeln die Kinder, es ist der anrührendste Moment in all den Forumsfilmen über die Beziehung zwischen den Generationen.

Der Näherinnenlohn der alleinstehenden Mutter reicht kaum für das Nötigste, ein Heimplatz für den Alten steht ihr trotzdem nicht zu. Eine einfache Frau unter immensem Druck, sie weiß sich nicht zu helfen, setzt den Vater auf einer Parkbank aus – und fahndet bald besorgt nach ihm. Der Film ist klug genug, keinen simplen Gegensatz zwischen sozialer Kälte und familiärer Wärme aufzumachen. Alle wollen helfen, die Behörden, die Nachbarn, nur lösen können sie das Dilemma nicht. Die Versorgung der Eltern: eine Bürde, die unter den Bedingungen der Armut weit schwerer wiegt als, sagen wir, in Formentera.

Ob in Südamerika, Asien oder Europa, die Generationen ringen miteinander, sind sich nah und doch fremd. Die Jungen erleben die Welt, die sie vorfinden, als gewaltige Zumutung. Aber sie wollen sich von ihrer Erblast nicht erdrücken lassen. Also drehen sie Filme über die verbaute Zukunft, auf der Suche nach einer Haltung, einem eigenen Lebensentwurf.

Gezeigt wird eine Generation,

die überall auf der Welt

in der Schuldenkrise steckt

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