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Europa: Gefühlte Nähe, gelebte Nachbarschaft

Europa wird stärker, je besser sich seine Bewohner kennenlernen - trotz Finanz- und Wirtschaftskrise.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat Europa durcheinandergewirbelt. Griechenland stand am Abgrund, Frankreich stürzt ins Chaos wegen einer eher zaghaften Rentenreform, die britische Regierung hat einen Katalog der Grausamkeiten verkündet. Spanien meldet über 41 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, Irland wird wieder zum Auswanderungsland, Deutschland überbietet sich mit Horrorszenarien bei der Integrationspolitik. Und die Europäische Kommission sowie das EU-Parlament gefallen sich in kleinteiligen Sonderregelungen – Egoismen allenthalben. Hat denn niemand aus der Finanzkrise gelernt, hat niemand das verbindende Band Europa begriffen, gerade jetzt?

Die weitgehend ökonomische Ausrichtung des Staatenverbundes EU reicht nicht aus, um ein gemeinsames Bewusstsein zu entwickeln, das auch in Krisen belastbar ist. Sicher, wir wissen heute mehr voneinander und reisen quer durch Europa. Aber reicht das aus, damit das von oben verordnete Europa von den Menschen angenommen und gelebt wird? Ohne aktive zivilgesellschaftliche Teilhabe bleibt vieles indifferent und abstrakt.

Da Stereotype häufig die Annäherung erschweren, sollte man in den Grenzregionen anfangen, mit Zusammenarbeit in der Wirtschaft und Wissenschaft, im Tourismus, im Sport. Das Erfahren von verlässlicher Zusammenarbeit ist ein wichtiger Aspekt, etwa bei der Bewältigung der Oderflut oder dem Aufbau gemeinsamer Infrastruktur. Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder mit 6500 Studenten ist für die Verständigung junger Deutscher und Polen Gold wert, ebenso die direkte Zusammenarbeit kultureller Institutionen bei Ausstellungen, Festivals, Städtepartnerschaften, der Erarbeitung eines europäischen Geschichtsbuchs oder den Europäischen Kulturhauptstädten. Die Goethe-Institute organisieren zum Beispiel den Austausch von Journalisten, die Mobilität von Autoren und Künstlern, Sprachkurse in Sommercamps oder Europäische Jugendparlamente.

Das europäische Selbstverständnis beruht nicht auf territorialen oder ethnischen Aspekten, sondern auf Werten und der Kultur. Es hat seine Wurzeln in der Antike, der Renaissance und der Aufklärung, verbunden mit einem umfassenden Wandel der Sozialstruktur, mit neuen politischen, ökonomischen, kulturellen Perspektiven und einer Überwindung der dogmatischen Frömmigkeit. Zwar erfuhr dieses Weltbild mit der Zeit Korrekturen, im Kern ist es jedoch bis heute Grundlage aller europäischen Gesellschaften: Rechtsstaatlichkeit, Trennung von Kirche und Staat, Freiheit des Individuums, das Recht auf persönliches Eigentum.

Die kulturelle Einheit Europas ist in ihrer Vielfalt zu finden. Sie bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern sollte als Gegenstand der Wissenschaft und der Bildung wechselseitig wirken. Dann wäre der jeweilige kulturelle Kontext mehr als ein Sammelbegriff für Identifikation oder für undeutliche nationale Empfindungen. Es ließe sich eine Verantwortung für den Kulturraum Europa daraus entwickeln.

Dieses zivilgesellschaftliche Mandat nimmt das GoetheInstitut als Deutschlands größter Kulturmittler gern an. Es hat durch ein tiefgreifendes Reformkonzept mit Budgetierung, Dezentralisierung, Kostenoptimierung und Modernisierung eine effiziente Struktur gewonnen. So konnten in Europa nicht nur die Standorte gehalten, sondern etwa in Italien mit der Spracharbeit wieder schwarze Zahlen geschrieben werden. Das Auswärtige Amt hat mittlerweile die gesperrten Mittel von 3,5 Millionen Euro freigegeben.

Für 2011 droht neues Ungemach mit Kürzungen und einer Festschreibung der Verwaltungsausgaben bis 2014 auf dem Niveau von 2009. Einige Institute in Europa wären dann gefährdet. Zur Zeit laufen intensive Haushaltsverhandlungen; der Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, der Auswärtige Ausschuss und der Kulturausschuss des Bundestages haben sich hinter das Goethe-Institut gestellt. Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, hat die Instituts-Autonomie im Rahmen der Budgetierung klar unterstrichen und sich gegen das Einfrieren des Haushalts ausgesprochen. Ferner hat sie Projektmittel aus der Bildungsinitiative in Aussicht gestellt. Es bleibt also spannend!

Schließlich geht es um die politische Kraft der Kultur. Sie sollte weder als Spielplatz für Künstler und Intellektuelle noch als Grundstoff für Kommerzialisierung missverstanden werden. Sie ist Grundlage unserer Gesellschaft. Dabei ist das Engagement für Europa für unser weltweites Netz von 150 Goethe-Instituten in 85 Ländern von zentraler Bedeutung. Nur mit ausgeprägter Nahkompetenz können wir auch Fernkompetenz vermitteln. Die Unabhängigkeit erlaubt uns dabei einen überpolitischen, offenen, auch künstlerisch riskanten Blick auf Europa. Dazu zählt etwa das europaweite Theaterprojekt „After the Fall“. 20 Jahre nach dem Mauerfall reflektierten 17 Dramatiker aus 15 europäischen Ländern aus Ost und West in ihren Theaterstücken den Wandel ihrer Heimatländer seit 1989. Da war nicht nur Aufbruch und Veränderung, sondern auch Resignation, Ignoranz und unverändert brutale Machtstruktur zu sehen – ein Spiegel der Wirklichkeit Europas.

Uns selbst als Lerngemeinschaft zu begreifen, macht uns offen für europäische Integrationsprozesse. So haben wir letztes Jahr die Fortbildung türkischer Imame bundesweit gestartet. Die Kurse umfassen mehr als 500 Stunden Deutsch sowie interkulturellen und landeskundlichen Unterricht. Damit werden Imame in die Lage versetzt, für die Bedürfnisse und Probleme von Muslimen in Deutschland Lösungen oder Hilfsangebote zu vermitteln.

Wenn Europa zusammenwachsen soll, dann muss es seine Nachbarschaftsbeziehungen gestalten: die innere Nachbarschaft zu den zugewanderten Menschen, die Nachbarschaft von Staaten, zwischen denen historische Grenzen bestehen, die zu den Anrainern wie Russland oder Türkei und diejenige im Mittelmeerraum. Dabei geht es immer um Einbeziehen oder Ausgrenzen, um den „modus vivendi“.

An Frankreich ließe sich eine positive, bisweilen auch verklärte Haltung gegenüber dem Nachbarn beschreiben. Wie steht es mit Polen? Inzwischen lassen sich auch dort Verhaltensweisen beobachten, die dem Klischee der lange so schmerzlich empfundenen Oder-Neiße-Grenze widersprechen. Hier, im Osten und Südosten Europas, ist der Dialog ein wichtiger Beitrag zur Überwindung totalitärer politischer Kulturen, aber auch zur Verständigung sowie dem Abbau von Ressentiments gegenüber Deutschland. Was wissen wir von den türkischen Familien oder anderen Zuwanderern, mit denen wir Tür an Tür leben? Sprachkompetenz ist entscheidend für den sozialen, beruflichen und kulturellen Erfolg von Zuwanderern. Die Goethe-Institute mit ihren Kursen zur Vorbereitung auf das Leben in Deutschland sind inzwischen globale Lernorte und intensiv für die Integration tätig.

Deutschland ist Europas größte Drehscheibe für Kultur. Für viele Kulturen und Sprachen Mittel- und Osteuropas dient es als Tor zur Welt, besonders aktiv wirkt hier Berlin. Dazu gehören die Theaterfestivals, die Berlinale, das Artforum, die Modelabels, die Galerien und die kosmopolitische Atmosphäre. Das Goethe-Institut lädt über sein Besucherprogramm mit dem Auswärtigen Amt Künstler dazu ein, organisiert mit den Festspielen, dem Haus der Kulturen der Welt oder dem Literarischen Colloquium Workshops und Podien, fördert Nachwuchskünstler.

Europa ist – und war immer – ein Bildungsprojekt. Emanzipation durch Bildung ist die Grundlage für eine Bürgergesellschaft. Heute ist Bildung mehr denn je Schlüsselressource, auch über die „Ausbildung zur Persönlichkeit“. Deshalb ist es kritisch, wenn die Politik die Förderung von Bildung auf Ausbildung durch Schule und Hochschule verengt. Es gibt mehr Aspekte einer europäischen Bildungskultur diesseits und jenseits von „Bologna“.

Gelebte, aktive Nachbarschaft: Die Entdeckung der Verschiedenheit, die produktive Aneignung der Differenz, wäre die allererste Voraussetzung für eine europäische Staatsbürgerlichkeit.

Der Autor ist Präsident des Goethe-Instituts. Vom 27. – 29. Oktober veranstaltet es auf dem Flughafen Tempelhof die Konferenz „Illusion der Nähe? Ausblicke auf die europäische Nachbarschaft von morgen“. Infos: www.goethe.de/nachbar

Klaus-Dieter Lehmann

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