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Kultur: Europa hat uns betrogen

Abschied vom Mythos Volksarmee: An der Heimatfront ist Israel verwundbar / Von Moshe Zimmermann

Man musste kein Prophet sein, um eine Prognose zu wagen. Der zweite Libanonkrieg endet nicht mit der Kapitulation der Hisbollah oder Israels, sondern mit einem für den Beobachter interpretationsbedürftigen Patt, mit Toten und Verwüstung auf beiden Seiten.

Entscheidend für die Kontrahenten ist nicht die sachliche Einschätzung der Lage. Es geht um alles oder nichts, Sieg oder Niederlage, nicht um Gewinn und Verlust wie im kapitalistischen Alltag. Sieg und Niederlage gelten als absolute Werte, das weiß jeder Sportsfreund. Nur ist im Krieg anders als im Sport das Ergebnis meist eine Frage der Auslegung. Bis auf jene Kriege, die wie der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation enden, besteht meist die Möglichkeit, über das Resultat zu streiten. Dieser Streit zielt auf die kollektive Psyche: Jedes Lager nimmt den Sieg für sich in Anspruch. Diese Interpretation widerlegen zu wollen, ist müßig, denn wer an den Sieg glaubt, ist von den Argumenten des Verlierers nicht zu überzeugen. Das beflügelt ihn bei seinen Plänen. Genau das ist momentan Israels größtes Problem.

Am 14. August kam es zur Waffenruhe. Gleichzeitig begannen die frustrierten Israelis nach Sündenböcken zu suchen. Wie nach einem verlorenen Fußballspiel wurde der Ruf nach dem Rauswurf des Trainers laut. Nur, wer ist der Trainer? Regierungschef Olmert? Verteidigungsminister Peretz? Generalstabchef Haluz und seine Entourage? Wer ist verantwortlich, die Politik oder das Militär?

Das Militär, die heiligste Kuh Israels, signalisiert bereits seine Taktik gegen die Kritik. Wenn die vox populi den Kopf des Generalstabschefs verlangt, fordert das Militär im Gegenzug den Blick auf die Zukunft: Die nächste Runde kommt, garantieren die Generäle, und zwar sehr bald. Eine gefährliche Taktik, weil sie leicht zur self-fullfilling prophecy werden kann. Auch verlangt das Militär eine beträchtliche Erhöhung des Verteidigungetats. Es waren die unverantwortlichen Haushaltskürzungen, heißt es aus diesen Kreisen, die Israel Raketenabwehrmittel und andere notwendige Waffen verwehrten.

Die Politiker greifen zu einer anderen Taktik: Zwar kann man dem Militär punktuelles Versagen vorwerfen: unzureichende Vorbereitung, falsche Entscheidungen, vor allem die Unfähigkeit, die Zivilbevölkerung im Norden des Landes vor primitiven Katjuscha-Raketen zu schützen. Aber am Ende zielt die Kritik auf die politische Führung. Der Opposition fällt es leicht, der Regierung mangelhafte Kriegsführung vorzuwerfen. Es ist die Stunde Benjamin Netanjahus: Parlamentarier, die vor einem Jahr an Ariel Scharons Coup beteiligt waren und mit ihm die neue Regierungspartei Kadima gründeten, werden in die Gegenrichtung desertieren, um ihre Haut zu retten. Das kostet nicht nur Olmert das Amt, sondern hat auch einen neuen Rechtsruck zur Folge.

Schon während des Krieges warfen viele der Regierung Unentschlossenheit vor: Man hätte ganze Dörfer platt bombardieren, keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung des Libanon nehmen, die Bodenoffensive früher starten sollen. Auch der linke Flügel äußerte Kritik: gegen die Erweiterung der Offensive, gegen die überhastete Reaktion auf die Entführung der Soldaten. Bei einer Bevölkerung, die den Sieg erhoffte und einer psychologischen Kompensation bedarf, ist die rechtsorientierte Kritik jedoch attraktiver. Diejenigen, die gegen das Osloer Abkommen 1993, gegen den Rückzug aus dem Libanon im Jahr 2000 und gegen Ariel Scharons Rückzug aus dem Gazastreifen 2005 waren, betrachten den Krieg im Libanon als klaren Beweis für die Aussichtslosigkeit der israelischen Kompromissbereitschaft gegenüber Arabern und Moslems überhaupt. Je größer die Begeisterung unter den Hisbollah-Anhängern, desto verbissener reagiert die frustrierte Öffentlichkeit in Israel. Da geht es nicht nur um den Libanon, sondern um Palästina und die Golanhöhen.

Israel hätte die Lektion von 1991 längst verinnerlichen müssen. Nicht an der Front, sondern hinter der Front ist Israel verwundbar. Die etwa 40 Scud-Raketen aus dem Irak reichten 1991 aus, um eine nie dagewesene Panik zu schüren. Zwar haben Israel und die USA das Abwehrsystem „Patriot“ entwickelt, nicht aber ein Abwehrsystem gegen Katjuschas oder Kassam-Raketen. Die Hisbollah hat eben diese Schwachstelle ausgenutzt, um Israel von seinem erklärten Ziel abzubringen, so lange Krieg zu führen, bis keine Raketen mehr auf Israel abgefeuert werden und die entführten Soldaten befreit sind.

Aber auch die Scharfmacher, die für die Fortsetzung des Krieges mit noch härteren Mitteln plädieren, haben auf die Raketengefahr keine Antwort. Sie können nicht mit dem Argument des Militärs operieren, nämlich dass Raketen im Endeffekt „erträglich“ seien. Eine Wohlstands- und Spaßgesellschaft wie die israelische kann nicht drei Raketen pro Tag als eine Art Betriebsunfall hinnehmen, von 200 Raketen täglich ganz zu schweigen.

So sieht sich die israelische Regierung künftig mit der zentralen Frage nach dem hohen Preis eines Krieges konfrontiert. Die Erhöhung des Verteidigungsetats, die das Militär verlangt, ist ja nur auf Kosten der Ausgaben für Erziehung, Gesundheit und weiteres zu bewerkstelligen. Und auch die Wirtschaft, die global denkt, hält den Krieg für schädlich und überflüssig.

Zum hohen Preis gehört auch der Abschied vom Mythos Volksarmee. Große Teile der Bevölkerung, vor allem der Oberschicht, sind zu Drückebergern geworden – auch unter den Reservisten. Die Last, auch das „Sterben für das Vaterland“ ist bereits ungerechter verteilt als je zuvor. Auch die Vorstellung vom Militär als „Versicherungsgesellschaft“ – gegen Niederlagen oder Pannen im Kriegsverlauf – hegen nicht mehr viele. Entwicklungen, die die Begeisterung für den nächsten Krieg eindämmen dürften.

Hier verbirgt sich jedoch auch die Chance für eine positive Folge dieses Krieges: Israelis, wie auch Libanesen und Palästinenser sehen die Kriegsschäden und streben nach Wohlstand. Und Netanjahu ist ein Verfechter der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Hier, so glaubte man noch vor dem 12. Juli, lässt sich ein Hebel ansetzen, lassen sich Hass- und Rachegefühle zurückdrängen. Eine Hoffnung, die man auch nach dem 14. August nicht aufgeben darf.

Und wie steht es um die europäischen Bemühungen um die Sanierung der Region? Schlecht. Die Europäer haben sich zum wiederholten Mal als Versager erwiesen. Während des Krieges plädierte Europa – angeblich aus humanitären Gründen, eigentlich wegen des Ölpreises – für schnellstmögliche Waffenruhe und versprach, bei einer „robusten“ internationalen Truppe mitzuwirken. Als die Kriegsparteien die Waffenruhe akzeptierten und der Ölpreis wieder sank, begannen die Europäer, sich aus ihrer Verantwortung herauszumogeln. Deutschland eingeschlossen, erwiesen sie sich als Betrüger oder Drückeberger.Die Hoffnungen Israels werden sich weiterhin auf Amerika, nicht auf Europa richten.

Moshe Zimmermann, Jg. 1943, lehrt

Geschichte an der

Hebrew University in Jerusalem und lebt in Tel Aviv. Seit Kriegsbeginn schrieb er auf dieser Seite im Wechsel mit Abbas Beydoun.

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