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Bleiben Sie bitte angeschnallt. Pedro Almodóvars „Fliegende Liebende“ ist für den neuen Komödienpreis nominiert.

© Verleih

Europäischer Filmpreis in Berlin: Wo bitte geht’s zur Gegenwart?

Gala mit Retro-Charme: Am heutigen Sonnabend werden in Berlin die 26. Europäischen Filmpreise verliehen. Die westlichen Nationen feiern dabei sich selbst.

Treffen sich ein Franzose, ein Italiener, ein Brite und ein Deutscher. So fingen früher gute Witze an, bloß lachen will heute keiner. Europäische Filmkomödien? Gibt es eigentlich gar nicht. Humor ist regionalspezifisch, die Komik der anderen lässt sich schwer exportieren. Bully Herbig bleibt auch weiterhin eine innerdeutsche Lachnummer, umgekehrt verfangen die derben Zoten der Italiener oder Spanier hierzulande kaum. Aber immer nur ernste Filme, das geht nicht, fand die Europäische Filmakademie. Und richtete eine neue Kategorie ein: einen Preis für Europas beste Komödie.

Am heutigen Sonnabend findet im Haus der Berliner Festspiele die 26. Verleihung der Europäischen Filmpreise statt, Comedy-Star Anke Engelke moderiert, bestimmt wird es lustig. Der Neuzugang der Komödiensparte ist wohl der Tatsache geschuldet, dass der Superblockbuster „Ziemlich beste Freunde“ 2012 zugunsten von Michael Hanekes Ehedrama „Liebe“ leer ausging, obwohl er Europa einte wie lange kein Film. Mehr als 40 Millionen Zuschauer erreichte die Story vom gelähmten Multimillionär und seinem Pfleger auf dem alten Kontinent. Aber ein Kassenerfolg macht noch keinen Komödienfrühling. Nur zwei der jetzt vier nominierten Produktionen hatten überhaupt einen deutschen Start, Pedro Almodóvars „Fliegende Liebende“ und Susanne Biers „Love is all you need“.

Retro-Charme in der Sparte Bester Film

Die Unterscheidung von Ernst und Heiter ist, mit Verlaub, blühender Unsinn. Sie bewirkt das Gegenteil von dem, wonach der Europäischen Filmakademie der Sinn steht, zementiert sie doch die Trennung von Filmkunst und Kommerz, wie etwa Volker Schlöndorff sie immer wieder beklagt. Schlöndorff gehört zum Vorstand der Akademie, deren mittlerweile 2900 Mitglieder über Nominierungen und Sieger abstimmen. Ein Extrapreis für die Komödien, weil sie es so schwer haben? Almodóvar, der als idealtypischer Euroregisseur Erfolge weit über Spanien hinaus verzeichnet, braucht keinen Sonderstatus. Er wird ohnehin mit einer Trophäe für seinen Beitrag zum Weltkino geehrt.

Europa steckt in der Krise, auch 2013. Wer, wenn nicht das Kino, könnte sich um dessen Seele kümmern, um die emotionale Seite des europäischen Projekts? So wünscht es sich seit Jahren Akademie-Präsident Wim Wenders. Wenn Catherine Deneuve heute in Berlin den Preis für ihr Lebenswerk erhält, werden alle der Grande Dame aus Paris mit Ovationen huldigen, wie Bertolucci, Stephen Frears, Bruno Ganz, Judi Dench oder Jeanne Moreau bei früheren Euro-Galas. Ach, die guten alten Zeiten: Europa, das nach dem Krieg einmal eine „Wahnsinnsidee“ war (Wenders) und im Zeitalter der Billigflieger und Auslands-Studienprogramme längst als Selbstverständlichkeit gilt, wärmt sich gern an seinen Erinnerungen.

Nur so lässt sich erklären, warum die diesjährigen Nominierungen in der Sparte Bester Film derart viel Retro-Charme ausstrahlen. „La Grande Bellezza“, die Geschichte des alternden Society-Reporters Jep Gambardella, der durch Roms Partynächte flaniert, mag ja noch angehen. Paolo Sorrentinos Hommage an Fellinis „La Dolce Vita“ macht die eigene Nostalgie und Morbidität als Artefakt kenntlich, mit mal zarter, mal sarkastischer Selbstironie: Vanitas mit einem Augenzwinkern. Der ebenfalls nominierte Kunsthändler-Mysterienkrimi „Das höchste Gebot“ von Giuseppe Tornatore bleibt dagegen eine abgeschmackte bildungsbürgerliche Männerfantasie. Und das schwarz-weiße Stummfilmmärchen „Blancanieves“ aus Spanien ein blasses Epigonenwerk nach dem Oscar-Gewinner „The Artist“.

„Oh Boy“ tritt in gleich vier Kategorien an

Apropos Schwarz-Weiß: Lola-Sieger „Oh Boy“ tritt in gleich vier Kategorien an, als bester Film, als „European Discovery“, für den Publikumspreis und mit Tom Schilling bei den Darstellern. Jan-Ole Gersters Berlin-Film mauserte sich mit 380 000 Zuschauern zum deutschen Überraschungshit, im Kino unserer europäischen Nachbarn verzeichnet er kleine, feine Erfolge: 60 000 Besucher in Frankreich, 20 000 in den Niederlanden, weltweit hat er sich in 30 Länder verkauft.

1300 Filme wurden 2012 in der EU produziert. Nicht nationale Eurofilme brachten es dabei auf einen Marktanteil von 12 Prozent. Das ist viel im Vergleich zu den Vorjahren, dank dem britischen Bond-Streifen „Skyfall“. Gewöhnlich liegt der Anteil nur bei fünf bis sechs Prozent. Zwischen Hollywood und einheimischer Ware fristen die Filme der Nachbarn ein Nischendasein. Europas Kino, ein Flickenteppich: Grenzübertritte schaffen nach wie vor nur die wenigen big names, Almodóvar, Haneke, Kaurismäki, Ken Loach, Lars von Trier. Und alle paar Jahre der französische Charme einer „Amélie“ oder der populäre Witz der „Schtis“ – Unikate ohne flächendeckende Folgen.

„Oh Boy“ immerhin spielt mitten im Heute, in der Lebenswirklichkeit junger Großstadtnomaden. Aber auch hier dominieren die verschatteten Farben der Melancholie. Die zwischen den Zeitebenen changierende belgische Trauerballade „The Broken Circle“ ist ebenfalls von stiller Wehmut geprägt – und mit sechs Nominierungen einer der Favoriten bei der heutigen Verleihung. Hoffentlich läuft Abdellatif Kechiche ihr am Ende den Rang ab, mit dem Cannes-Sieger „Blau ist eine warme Farbe“, einem lesbischen Liebesdrama, das Erotik und Politik mit schockhafter Intensität auf die Leinwand bringt. Mit extremen Close-ups auf gleißendes Glück, expliziten Sex, alltägliche Diskriminierungen und den beißenden Trennungsschmerz, wenn die Begierde erlischt. Ein Kino der Körper und Blicke, eine Frischzellenkur (deutscher Filmstart am 19.12.).

Wo bitte geht’s zur Gegenwart?

Der europäische Film, müde, schal, schön melancholisch und höchstens von der Liebe zweier Frauen beseelt? Die Filmakademie versteht ihren Preis als Ermutigung und Ermunterung für das disparate kulturelle Europa – und liegt diesmal deutlich daneben. Bei allem Respekt vor der Tradition und Schwermut der großen Autorenfilmer des 20. Jahrhunderts: Wo bitte geht’s zur Gegenwart?

Selbst die nominierten Dokumentarfilme erkunden mit einer Ausnahme die Vergangenheit – in Indonesien und Kambodscha (und wenn schon Rückblick: Wieso ist eigentlich Claude Lanzmanns „Der Letzte der Ungerechten“ nicht dabei?). Bei den Spielfilmen vermisst man Europas Gegenwart erst recht. Denn in letzter Zeit haben zahlreiche Entdeckungen aus Osteuropa von sich reden gemacht, ungeheuerliche Geschichten aus Rumänien, Ungarn, Bosnien und Herzegowina, starke, eigensinnige Produktionen aus dem krisengeschüttelten Griechenland. Keiner dieser hart an der Wirklichkeit segelnden, meist spottbillig produzierten Filme über Korruption, Arbeitslose oder verfolgte Roma schaffte es auf die Shortlist. Sie tauchen nur vereinzelt in Nebenkategorien auf.

Dass der Euro-Preis für „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“ 2007 die Anfänge des rumänischen Filmwunders würdigte, hat sich mittlerweile als rühmliche Ausnahme erwiesen. Diesmal konnte selbst der großartige Berlinale-Sieger „Mutter und Sohn“ aus Bukarest lediglich eine Nominierung für die furiose Hauptdarstellerin Luminita Gheorghiu ergattern. So würdigt die Bester-Film-Endrunde 2013 nicht die ästhetische und erzählerische Kraft von Werken aus prekären, totgesagten Filmländern, sondern vor allem die Saturiertheit und Schwermut der etablierten westlichen Nationen.

Treffen sich ein Franzose, ein Italiener, ein Brite und ein Deutscher. Irgendwie bekommt die Altmeisterrunde nicht mit, dass die Musik jetzt auch woanders spielt.

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