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Kultur: Europas Angst

Buchmesse Leipzig eröffnet mit Andruchowytsch

Von Gregor Dotzauer

Am Ende seiner Rede im Leipziger Gewandhaus gibt es standing ovations für Juri Andruchowytsch, den Träger des Preises für Europäische Verständigung. Gilt der Applaus seinen Forderungen nach uneingeschränkter Reisefreiheit für alle Ukrainer und nach Aufnahme in die Europäische Union? So prosaisch, wie er, der sonst fast alles in ein absurdes poetisches Licht rückende Schriftsteller sie vorbringt, macht er fast den Eindruck, als sei er in rein außenpolitischer Mission nach Leipzig gereist. In diesem Fall wäre die Zustimmung: ein philanthropisches Gemeinschaftserlebnis. Oder ist der aufbrandende Jubel eher Ausdruck der Verstörung, die er mit seiner galligen Schärfe auslöst: eine Antwort auf genau die Fragen, die er ins Publikum geschleudert hat? „Vielleicht hat Europa einfach Angst? Vielleicht hat es Angst vor Europa, vor sich selbst? Vielleicht verschließt es sich gerade deswegen vor uns, weil wir uns seine Werte so sehr zu Herzen genommen haben, dass sie zu unseren Werten wurden? Weil es nämlich selbst schon lange keinen Bezug mehr zu diesen Werten hat? Und das, was es im Grunde anstrebt, ist – sich nicht zu verändern. Und gerade diese Unfähigkeit, pflegt es insgeheim als höchsten Wert?“

Der Jubel bei der Eröffnungszeremonie der Leipziger Buchmesse ist eine Novität, und Andruchowytschs Rede ein Zeugnis von Mut – selbst wenn es ein Mut der Verzweiflung ist. Eben noch hatte Ingo Schulze eine pointensprühende Laudatio gehalten: Reisenotizen, die ahnen lassen, dass er niemals über die ukrainische Grenze gelangt ist. Eben noch hat sich Andruchowytsch in rhetorische Dankbarkeitsspiralen hineingeschraubt – um wenige Minuten später fast bitter zu werden. Andruchowytsch polemisiert gegen Günter Verheugens Prognose, „in 20 Jahren werden alle europäischen Länder Mitglied der EU sein – mit Ausnahme der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die heute noch nicht in der EU sind“. Er kritisiert die unwürdige Visaaffäre: „Kein Schriftsteller, Philosoph oder Wissenschaftler, der einfach nur laut daran gezweifelt hätte, dass die ukrainische Gesellschaft wirklich durchweg aus Verbrechern und Nutten besteht, die alle ins heilige Schengengebiet eindringen wollen.“ Er schimpft auf den „cordon sanitaire“, den Europa mit Hilfe biometrischer Daten um sich ziehen wolle. Und bittet um Hoffnung für sein „verfluchtes Land“.

Man muss weder Andruchowytschs Einschätzung von Verheugen als illiberalem EU-Kommissar teilen noch sein Bild von der bundesrepublikanischen Ukraineverachtung: Treffender hat noch kein Leipziger Redner die Schönfärbereien zur europäischen Verständigung durchkreuzt.

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