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Blühende Landschaften. In Turku gedeiht Antti Stöckells und Jani Rättyäs überdimensionales Gänseblümchen.

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Europas Kulturhauptstädte: Ein Besuch in Tallinn und Turku

Politisches Estland, gemütliches Finnland: Tallinn und Turku sind Europas Kulturhauptstädte 2011. Vor allem Turku schmückt sich regelrecht mit Kultur. Ein Ortstermin.

Wer sich mit Gottes Auge alias Google Earth hier hinunterzoomt, sieht sofort: Estlands Hauptstadt Tallinn liegt prächtig am Meer. Großes Hafenbecken im Nordosten und dahinter der finnische Meerbusen, so heißt noch immer im Schulatlasdeutsch die schmale Ostseebucht mit der Millionenstadt St. Petersburg an ihrem östlichsten Ende. Das gegenüberliegende Ufer mit Helsinki ist 80 Kilometer nah, schlappe zwei Stunden mit der Autofähre, überhaupt strömt reichlich Verkehr von Küste zu Küste. Ankert da nicht gerade der Kreuzfahrtriese „Emerald Princess“, einer dieser gewaltigen Touristentanker mit 3000 Passagieren an Bord?

Wer sich aber durch die einstige Hansestadt Reval bewegt, die sich neben ihrem betörend schönen mittelalterlichen Kern neuerdings ein flottes Shopping- und Hotelviertel zugelegt hat, könnte das Meer so glatt vergessen, wie die Stadt selber ihr Meer lange vergessen hat. Keine Strandpromenade, nirgends. Die Touristen fluten vom Hafen heran – Außerirdische, die sich spätestens über Nacht wieder verlieren. Wer in Tallinn partout ans Wasser drängt, der pilgert aufs Dach des Linnahall, so heißt das Segelolympiazentrum, das die Sowjets 1980 ans Ostseeufer geklotzt haben. Heute rostet der von Graffiti übersäte Riesenbau vor sich hin, salzzerfressen wie ein vom Meer ausgespieener Flugzeugträger aus Beton.

In dieser seit der Zarenzeit zernutzten Welt verrottender Werften und Remisen, Garagen und einstigen Fischfabriken hat Andrej Tarkowski vor über 30 Jahren seinen legendären Film „Stalker“ gedreht. Was ihm hier, in einem hunderte Meter breiten Gürtel zwischen bewohnter Stadt und Küstenlinie, zur metaphorischen „Zone“ wurde, machten die Sowjets konkret zum Sperrgebiet. Sie entfremdeten die Einwohner Tallinns dem Meer, verrammelten den Horizont mit Wachtürmen und Stacheldraht, schließlich lauerte da draußen der böse Kapitalismus. Doch nun, im 20. Jahr der Unabhängigkeit Estlands und zur Feier des etwas pompösen Titels „europäische Kulturhauptstadt“, den man mit dem finnischen Turku teilt, tönt es überall in Tallinn: Wir erobern das Meer zurück!

Warum erst jetzt? Weil wir, antworten die Tallinner, erst die Trümmer wegräumen mussten – und der Einwand ist so materiell wie mental zu verstehen. Was derzeit zu sehen ist nördlich der Altstadt und bis in das mit Holzhäusern bebaute Künstlerviertel Kalamaja, ist eine aufregende Brache und stadträumliche Hoffnungszone, die die Spuren der Vergangenheit inszeniert und zugleich überwinden will. Hier schlägt das melancholische Herz Tallinns – in feinem Gegentakt zum Veranstaltungslärm des Feierjahrs.

Denn kaum ist das Areal der Epoche kommunistischer Unbespielbarkeit entrissen, droht es endgültig den Gesetzen der neuen Zeit zu verfallen. Eine Investorengruppe mit dem sprechenden Namen „ProKapital“ plant eine schmucke Marina mit eleganten Wohnkomplexen – und folglich gerät jede kulturelle Inbesitznahme des Geländes zum Protest. Genau das verleiht vielen Vorhaben in diesem Jahr programmatischer Kulturtouristenanlockung besonderes Gewicht. So sind junge Konzeptkünstler, so listig provisorisch wie einst im Berliner Tacheles, in ein früheres Heizwerk eingezogen und betreiben dort das unabhängige „Eesti kaasaegse kunsti muuseum“. Auch die Arbeit der Architekten Siiri Vallner und Indrek Peil hat sanften Besetzungscharakter: Die zerborstenen Teile einer Betonmole haben sie mit Holzplatten überzogen, nun nutzen die Sonnenbadenden die Planken als abenteuerliche Liegefläche. Und an einem entlegenen Hafenbecken lockt, untergebracht in einem ramponierten Londoner Doppeldeckerbus, das erste meerseitig liegende Stadtcafé – auch das keine bloße Firmengründung, sondern ein selbstbewusster Aneignungsbeweis.

In Tallinn haben Siiri Vallner und Indrek Peil die verrottete Mole eines abseits gelegenen Hafenbeckens mit extra zugeschnittenen Holzplatten verziert.
In Tallinn haben Siiri Vallner und Indrek Peil die verrottete Mole eines abseits gelegenen Hafenbeckens mit extra zugeschnittenen Holzplatten verziert.

© Schulz-Ojala

„Kulturkilometer“ haben die Tallinner das sich tatsächlich über 2,2 Kilometer erstreckende Ufergelände getauft, und wie es aussieht, wollen sie es sich nicht mehr nehmen lassen. Seine Hauptschlagader ist ein neu angelegter Fußgänger-, Radler- und Joggerpfad mit witzig vielen Kilometersteinen – nur in eine „Strandpromenade“, wie in mancherlei Prospekten angekündigt, lässt er sich beim besten Willen nicht verwandeln. Auch auf das groß angekündigte Meeresmuseum muss die Stadt wohl mindestens bis nächstes Jahr warten – und was ist mit dem schick „Kulturpark“ genannten ehemaligen Gefängnis „Patarei“?

Der unmittelbar am Meer gelegene, riesige Komplex für zuletzt 2000 Insassen, Anfang des 19. Jahrhunderts als russisches Festungswerk erbaut, bleibt vor allem ein Schaudern machendes Zeugnis menschlicher Gewalt, in dessen eiskalten und düsteren Gängen sich der Besucher nach Belieben verlaufen darf. Eine alte Frau, die am Eingang auf Estnisch lautstark ein paar Informationen aufsagt: Das ist das ganze „Kulturpark“-Personal.

Gegen so viel freigelegte Schmerzensgeschichte einer Stadt, die angesichts anderweitiger Schönheit ohnehin von Touristen überschwemmt wird, hat es das nahe, ferne Turku am anderen Meerbusen-Ufer nicht leicht. Kulturhauptstädtisch punktet es vor allem mit Humor und frisch aufgeschminkter Lieblichkeit. Bislang wurde die architektonisch funktionale, in große Straßenblöcke gegliederte frühere Hauptstadt Finnlands vor allem als Durchgangsort des Schweden-Fährverkehrs wahrgenommen. Nun inszeniert sie sich ausdrücklich als „Kultur tut gut“-Reiseziel – und setzt, wo Tallinn seinen Kulturbegriff ins Historischpolitisch-Ökonomische weitet, ganz überwiegend aufs Soziale.

Herzstück vieler Events in diesem Jahr ist das Kulturzentrum Logomo, neu errichtet in einer ehemaligen LokomotivenReparaturhalle. Hier sind auch alle wichtigen Ausstellungen versammelt, wobei sich der Besucher nach dem Durchqueren eines kühl-eleganten, von Tobias Rehberger gestalteten, Cafés zuerst mit einer Wanderausstellung über Fußball konfrontiert sieht: niedrigschwellige Kulturverführung vor allem für die sportbegeisterten Finnen. Den größten Raum nimmt eine Schau über Feuer ein, die beeindruckend das bis heute nachwirkende Trauma der Stadt ins Visier nimmt: den historischen Brand vom September 1827. Damals verlor Turku seine durchaus mit Tallinn vergleichbare Schönheit, und Helsinki, ohnehin näher am herrschenden Russland, wurde endgültig die Nummer eins unter den finnischen Städten.

Diese Ausstellung spricht Touristen ebenso wie örtliche Schülergruppen an, wie man in Turku überhaupt auf Kultur für alle setzt. Stolz sind die Veranstalter etwa auf den Publikumserfolg einer „Hair“-Inszenierung, für die ältere Bürger der Stadt anderthalb Jahre lang geprobt hatten. Originell auch die Werbeidee, 5000 Kulturtickets auf Krankenschein anzubieten: Tatsächlich verschreiben Turkuer Ärzte nun von Fall zu Fall heilende Kulturaugenblicke, mit durchaus ernstgemeintem Hintergrund.

Denken ist gesund, Träumen erst recht. Also schmückt sich Turku, das über einen dreimal höheren Kulturhauptstadt-Etat als Tallinn verfügt, nun regelrecht mit Kultur. Überall im Alltag, selbst auf Müllcontainern, spielen lustig gestaltete Plakate jeweils passend zum Ort mit dem Begriff selbst, so wie vier von Künstlern gestaltete Saunen mitten im Stadtraum die intime Nutzbeziehung der Finnen zu einem ihrer Nationalheiligtümer hintergründig auf die Probe stellen. Und mag Turku der Zugang zum Meer auch durch die Schärenwelt verstellt sein: Die lange vernachlässigten Ufer des Stadtflusses Aura sind vom Dom bis zur Burg, den beiden Wahrzeichen des Ortes, zu blühenden Flanierzonen geworden. Und das mit heiterer environmental art, von den „Gifts of Heaven“ genannten spiegelüberzogenen Findlingen des Kari Cavén bis zu Antti Stöckells und Jani Rättyäs überdimensionalem Gänseblümchen.

Mit Hunderten von Veranstaltungen – Tallinn hat sogar sein legendäres Jugendsängerfest um ein Jahr vorverlegt – putzen sich beide Städte heraus, und einige der Highlights gastieren an beiden Orten. Nur mit dem Exklusivmerkmal der dichten Nachbarschaft im einstigen politischen Westen und Osten fangen die beiden sprachlich und kulturell verwandten Städte Tallinn und Turku erstaunlich wenig an. Fähr- oder Flugverbindungen zwischen den Städten fehlen auch im Prunkjahr 2011 niemandem, und beide Veranstalter machen in ihren Programmen auf den Partner allenfalls pflichtschuldig aufmerksam.

Mögen sich Esten und Finnen etwa nicht? Ach was, ihre gelegentliche Aversionsaufwallungen gelten den Schweden und Russen, ihren früheren Hegemonialmächten, mit deren schwierigen Minderheiten sie bis heute in ihren Landesgrenzen zusammenleben müssen. Vielleicht sind sie sich, wie manche Verwandte, einfach nur ein bisschen zu nah.

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