zum Hauptinhalt
Schlag den Bohlen. Lena und ihr Mentor Stefan Raab. Foto: dpa

© dpa

Eurovision Song Contest: Lena und die Luder

Der deutsche Auftritt beim Eurovision Song Contest in Oslo markiert einen Epochenwechsel – und der Sieger heißt Stefan Raab.

Selbst wenn der Euro scheitert: Der Eurovision Song Contest wird bleiben. Der Sängerwettstreit ist eine der wenigen europäischen Institutionen, die von der Mehrheit der europäischen Bevölkerung akzeptiert, halbwegs verstanden und für eher sympathisch gehalten werden. Natürlich hat auch der Song Contest, wie alles Europäische, ein Bürokratieproblem – diese endlose Auszählungsprozedur! Natürlich wird man in Deutschland nie den alten deutschen Verdacht los, irgendwie übers Ohr gehauen zu werden – diese undurchschaubaren Kleinstaaten, der Balkan, Andorra und das Baltikum, schanzen sich gegenseitig die Punkte zu! Aber es ist das einzige gemeinsame Volksfest, das wir in Europa haben, und insofern hoch bedeutsam.

Die Musik ist dabei vergleichsweise unerheblich. Im Regelfall siegt am Ende ein Ohrwürmchen, an das sich in fünf Jahren kaum jemand erinnert. Auch für die Sänger des Siegertitels ist eine anschließende Weltkarriere eher die Ausnahme als die Regel.

Aber am morgigen Samstag, in Oslo, wird auch deutsche Mediengeschichte geschrieben, und das hängt nicht in erster Linie damit zusammen, dass die deutsche Kandidatin Lena aussichtsreicher zu sein scheint als üblich.

In Deutschland konkurrieren seit einigen Jahren zwei Unterhaltungssysteme, das System Raab und das System Bohlen. Stefan Raab, geboren 1966, Jurastudium, Metzgerlehre, und Dieter Bohlen, Jahrgang 1954, Betriebswirt, sind beide erfolgreiche Kaufleute, Komponisten, Produzenten und Musiker, wobei Bohlen – weltweit aktiv – ein paar Umsatzmillionen Vorsprung besitzen dürfte. Beide sind von Anfang an Antihelden der Feuilletons gewesen. Zwei, denen man es nur schwer verzieh, dass ihr Ehrgeiz nicht über Unterhaltung hinausreicht, und dass sie dabei mit dem Menschenmaterial, das zufällig oder absichtlich in ihren Radius gerät, nicht besonders sensibel umgehen. Stefan Raab erlaubte sich zum Beispiel Späße auf Kosten einer jungen Frau, die mit dem Namen Lisa Loch geschlagen ist, den anschließenden Prozess verlor er.

Aber was war eigentlich, vor Jahren, mit den Polenwitzen von Harald Schmidt? Was war, als Rudi Carrell mit Dessous um sich warf und Schwulenwitze erzählte? Schon vergessen die Verachtung, die dem jungen Thomas Gottschalk entgegenschlug, diesem Zotenreißer und Frauenanfasser?

Vielleicht muss man, um ein Volksheld im Fernsehen zu werden, durch eine Art Pubertät hindurch, in denen man Zoten reißt und von gewissen Milieus dafür verachtet wird. Vielleicht muss man aber auch einfach nur den längeren Atem haben, am Ende respektieren sie dich doch, und sei es nur deshalb, weil du einfach nicht weggehst.

Raab ist inzwischen der unbestritten kreativste Kopf des deutschen Fernsehens

Bohlen und Raab haben sich auseinander entwickelt. Bohlen hat sich in den letzten Jahren auf die Jurys der Castingshows „DSDS“ und „Supertalent“ konzentriert und sich auf sein Schutz- und Trutzbündnis mit RTL und der „Bild“-Zeitung gestützt. Raab hat, neben und innerhalb seiner laufenden Geschäfte wie der Show „TV Total“, konkurrierende, weniger aggressive und musikalisch interessantere Castingshows betrieben und, was niemand für möglich gehalten hätte, zum ersten Mal seit „Wetten dass ...?“ eine exportfähige deutsche Fernsehshow für die ganze Familie erfunden, „Schlag den Raab“. Nebenbei hat Raab liebenswerte Kuriositäten wie die „Wok-WM“ in die Welt gesetzt, bei der Kandidaten, auf asiatischen Bratpfannen sitzend, durch den Eiskanal rasen, im Grunde eine Aktualisierung der alten Seifenkistenrennen.

Raabs Firma produziert „Stromberg“, eine der wenigen intelligenten deutschen Serien. Raab ist inzwischen der unbestritten kreativste Kopf des deutschen Fernsehens, er hat sich aus der Trash-Ecke herausmanövriert. So wurde es möglich, dass der Privatfernsehmensch Raab vom NDR wieder einmal als Retter der deutschen Chansonehre verpflichtet wurde – eine Allianz, die noch vor einigen Jahren so undenkbar gewesen wäre wie eine Koalition zwischen FDP und Linkspartei.

Bei der Castingshow, deren Siegerin Lena Meyer-Landrut hieß, trat Raab als Jurymitglied wie ein freundlicher Gemeinschaftskundelehrer auf, der aus Prinzip keine Sechsen vergibt. Es fiel auf, dass Bohlens Castingshow eine Plattform vor allem für das mit Hoffnungen nicht gesegnete Hartz-IV-Proletariat darstellt. Ein Auftritt bei Bohlen bedeutet, den Preis der Demütigung zu zahlen für die vielleicht einzige Chance, die man jemals bekommt. Bei Bohlen kam es, wie in der Fabrik, darauf an, zu funktionieren und nicht zu widersprechen, die Ansagen der Jury waren ehrlich bis über die Schmerzgrenze hinaus. Ihr Ton erinnerte an Schulreportagen aus sozialen Krisengebieten.

Bei Raab trafen sich die Abiturienten, wer dort scheiterte, dem war anzusehen, dass ihm oder ihr ja immer noch die Option auf ein Psychologiestudium blieb. Dass Raabs Kandidaten ein Recht auf einen eigenen Musikgeschmack besaßen, verstand sich fast von selbst. Die Verwendbarkeit der Kandidaten in der Verwertungsmaschine des Leitwolfs spielte bei beiden, Raab und Bohlen, eine Rolle, aber bei Raab fiel das weniger auf.

Die beiden Systeme entsprechen also zwei sozialen Klassen und zwei Arten der Herrschaft, einmal offen und direkt, einmal vermittelt und indirekt. Mit künftigen Arbeitslosen springt man anders um als mit künftigen Lehrern und Architekten. Ein anderer Unterschied ist vielleicht noch wichtiger. Nicht nur Stefan Raab selbst, auch Lena verweigert jeden voyeuristischen Blick auf Privates oder gar Intimes. Für „Bild“ und RTL ist das nur eine weitere Provokation – aber Raab und Lena Meyer-Landrut brauchen „Bild“ eben nicht, genauso wenig, wie Daniel Kehlmann, Fatih Akin oder Anna Netrebko für ihre Karrieren „Bild“ gebraucht haben.

Eltern sind entzückt: Es gibt noch liebe Mädchen in Deutschland! Und es gibt immer noch zwei Arten des Erfolgs, im einen Fall muss man sich restlos ausziehen, seelisch oder sonst wie, im anderen Fall liefert man einfach nur gute Arbeit ab. Den Erfolg der bezaubernden, versponnenen Lena, die ein bisschen an Björk erinnert, könnte man also rundum erfreulich finden, wenn nicht gleichzeitig klar wäre, dass ihr Eigensinn ein Luxusartikel ist, den nicht jeder sich leisten kann. Ob Lena so echt ist, wie es scheint, weiß man nicht, und was nach dem Osloer Finale aus ihr wird, weiß man noch weniger, nur eines ist klar: Carrell ist tot, Gottschalk wird nicht ewig auf Sendung bleiben, ihr Nachfolger heißt Stefan Raab.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false