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Kultur: Ewigkeit, du Donnerwort

Zwischen Schubert und Luis Trenker: Die Zürcher Festwochen erforschen Anton Bruckner

Anton Bruckner wäre entzückt gewesen. Mehr noch: Mit der für ihn typischen Mischung aus Selbstbewusstsein und Naivität hätte er wohl angenommen, dass die über 150 Jugendspielmannszüge aus aller Welt, die am vergangenen Wochenende die Zürcher Innenstadt erzittern ließen, allein ihm zu Ehren aufmarschiert wären. Und vielleicht hätten die zahllosen, breitgetretenen Viervierteltakte ihn sogar zu einer noch größeren, monumentaleren Klangvision inspiriert – hätten vielleicht gar zum Inspirations-Funken für das unvollendet gebliebene Finale der Neunten getaugt, dem Werk, das seinem Schaffen die Krone aufsetzen und es ebenbürtig neben dasjenige Beethovens stellen sollte.

Tatsächlich sind die Teenager in den netten bunten Polyester-Uniformen natürlich nicht zu Ehren Bruckners hier, sondern zum Weltjugend-Musiktag, der rein zufällig parallel zum Abschluss des Bruckner-Festivals der Zürcher Festwochen stattfindet. Gleichwohl lässt sich kaum ein suggestiveres Rahmenprogramm für eine Gesamtaufführung aller zehn Bruckner-Sinfonien (inklusive der so genannten Nullten) denken. Nicht nur, dass Bruckners Melodik in der dörflichen Umgebung seiner Kindheit wurzelt – mit Posaunenchören, Jagdhörnern, Blaskapellen und allem, was dazu gehört. Ihre monumentalisierte Simplizität lässt sich durchaus als Apotheose des Spielmannszugs auffassen. Der Beigeschmack von Bierzelt und Reichsparteitag, von dumpfem Weltschmerz und riesenhafter Feuerwehrkapelle begleitet diese Werke jedenfalls seit ihrer Entstehungszeit. Die bald darauf erfolgten Vereinnahmungsversuche des Komponisten durch die deutschnationale Bewegung und später durch das Dritte Reich, sie lagen scheinbar nahe: Bruckner, der unbeirrbar bodenständige Germane, der sich, anders als sein Antipode Brahms, nicht um die formerfüllende Eleganz schert, der die Schlichtheit und Innigkeit seiner volkstümlichen Motive ins Heroische, schicksalhaft Allumfassende zu wenden weiß.

Tatsächlich kann wohl keine Musik so unangenehm und impertinent klingen wie die Anton Bruckners – und selbst 60 Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs tritt dieser inhärente Luis-Trenker-Bombast immer sofort wieder auf den Plan, sobald ein Dirigent sie zum Objekt seiner Allmachtsfantasien macht (was natürlich nicht heißen soll, dass diese Musik per se schlecht ist, ebenso wenig wie diejenige Wagners). Ganz im Gegenteil: Gerade ihre Zwiespältigkeit scheint sie in ganz außerordentlichem Maß gegenwartstauglich zu machen.

Die Reihungstechnik seines Satzbaus, die mit ihrer maschinenhaften Unerbittlichkeit die Moderne vorausnimmt, der Verzicht auf die formale Geborgenheit des klassischen Satzbaus, schroffes Nebeneinander der Themen statt Sonatensatzdialektik – all das hat in den letzten Jahrzehnten Dirigenten wie Hans Rosbaud, Günther Wand und heute Kent Nagano ganz andere Bruckner-Wahrheiten finden lassen, vor allem seit sich in den siebziger Jahren der Blick verstärkt auf die wesentlich radikaleren, widerborstigeren Urfassungen richtete.

Prophet der Moderne, romantischer Melancholiker oder deutschnationaler Gigantomane – all das scheint möglich. Und schon von daher macht der Zürcher Versuch Sinn, die maßgeblichen Bruckner-Interpreten in der historischen, noch zu Bruckners Lebzeiten eingeweihten Tonhalle zu versammeln. Mit Herbert Blomstedt, Bernard Haitink und Stanislaw Skrowaczewski haben in Zürich freilich die großen Alten das Übergewicht – die Vertreter eines Bruckner-Bildes, das zwar vom weihevollen Pathos eines Hans Knappertsbusch gereinigt, das aber nichtsdestoweniger darauf konzentriert ist, den harmonischen Gesamtentwurf der Werke zu betonen und das Brucknersche Nebeneinander von höherer Warte aus als schlüssige Kontrastdramaturgie zu entwickeln. Dass die Bruckner-Rezeption seit hundert Jahren von rüstigen Greisen dominiert wird, liegt sicher auch daran, dass für die Balanceakte zwischen motivischer Prägnanz und großer Linie, zwischen auratischer Wirkung und formaler Deutlichkeit tatsächlich die Erfahrung eines ganzen Dirigentenlebens nötig ist.

Am abschließenden Wochenende des auf mehrere Blöcke aufgeteilten Zürcher Festivals steht dafür die Fünfte mit dem 78-jährigen scheidenden Leipziger Gewandhauskapellmeister Herbert Blomstedt: Eine Demonstration des Gleichgewichtssinns mit dem Tonhalle-Orchester, eine Könnerschaft, die sich freilich zwischen den Polen einer theatralischen Dramatisierung einerseits und zugespitzter Modernität andererseits auf noble Neutralität zurückzieht – ein Bruckner, der beeindruckt, aber keine Fragen stellt. Schade, dass in Zürich ein Dirigent fehlt, der wie Boulez, Gielen oder Nagano diese Werke als Protokolle des Scheiterns versteht, der ihre Bruchstellen herausstellt, statt sie mit Besinnlichkeit zu kitten.

Riccardo Chailly, ab Herbst Blomstedts Nachfolger in Leipzig, tut das jedenfalls nicht und setzt statt dessen (ähnlich wie der aus Termingründen nicht in Zürich präsente Christian Thielemann) auf emotionale und akustische Überwältigung: Seine Dritte mit dem (leider nur begrenzt konkurrenzfähigen) Züricher Opernorchester ist spektakuläre Effektmusik, die ganz aus der Wirkung des maximal ausgekosteten Augenblicks lebt, stürzt sich mit frenetischer Hingabe in die feierlichen Tiefen des langsamen Satzes, stürmt auf die fanfarenblitzenden Kulminationsstellen in den Ecksätzen regelrecht los. Bruckner als akustisches, nach Ewigkeit strebendes Lustprinzip? Immerhin eine Möglichkeit, auch wenn die Grenze zum martialischen Getöne früherer Dirigentengenerationen da nur noch schwer zu ziehen ist.

Die Bruckner-Sensation freilich bleibt dem Flamen Philippe Herreweghe und seinem Orchestre des Champs-Elysées vorbehalten: Herreweghe, der im vergangenen Jahr seine Einspielung des gesamten Zyklus mit der Siebten eröffnete, zeigt, dass die Monumentalisierung dieser Stücke tatsächlich nur eine Fehlentwicklung des Orchesterapparats im 20. Jahrhundert ist. Wunderbar leicht und transparent klingt die Vierte, die „Romantische“, auf den historischen Instrumenten seiner Musiker. Die Klangbalance, um die Dirigenten wie Haitink und Blomstedt ihr Leben lang ringen – hier scheint sie sich ganz von allein zu ergeben.

Statt eines pompösen Verdrängungswettbewerbs blühen die Stimmen der Blech- und Holzbläser nebeneinander wie Blumen auf einer Wiese. Keinen Moment klingt dieser Bruckner lärmig oder gar aggressiv. Mit erstaunlichen Folgen: Statt nach außen richtet sich die emotionale Wirkungsrichtung dieser Musik mit einem Mal nach innen, gewinnt sie sozusagen menschliches Normalmaß. Ein Bruckner auf den Spuren Franz Schuberts, dessen Gedanken weniger auf eine glorreiche Zukunft, sondern mehr auf eine verlorene Vergangenheit gerichtet sind – Bruckners Technik der Wiederholung offenbart sich als ergreifende Geste melancholischer Resignation. Ein Gefangensein, in dem immer wieder die idyllischen Traumbilder der volksliedhaften Melodik aufscheinen.

Jörg Königsdorf

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