zum Hauptinhalt

Kultur: Exotik gibt es nicht nur in Papua-Neuguinea, sondern vor der Haustür (Glosse)

Was ist das für eine Gesellschaft, die den Geist über die Natur stellt? Ein älterer Herr in Frankfurt etwa wird Literaturpapst genannt, nur weil er ein Leben lang Thomas Mann und Fontane studiert hat.

Was ist das für eine Gesellschaft, die den Geist über die Natur stellt? Ein älterer Herr in Frankfurt etwa wird Literaturpapst genannt, nur weil er ein Leben lang Thomas Mann und Fontane studiert hat. Um Christian Schmidt hingegen kümmert sich niemand. Dabei verfolgt er seine Passion mit nicht minderem Eifer, und trotzdem würde ihn nie jemand "Asselpapst" rufen. Weil Asseln weniger wert sind als - nun ja - Rilke?

Asseln also. Im Fachjargon sind sie Mitglieder der Ordnung Isopoda. Neulich ist der Asselpapst in Mecklenburg-Vorpommern gesehen worden. Er grub mit einem Suppenlöffel im Boden. Es regnete, aber was er fand, beglückte ihn: Trichoniscus pusillus, Porcellio Scaber . . . Mit Schmidt (Uni Bochum) durchkämmten 101 weitere Experten die Gegend, mit Keschern, Netzen, Sieben, Klopfschirmen, Schachteln, Messern, Ferngläsern. Ups? Was war denn da los?

Ganz einfach, die Zeitschrift "Geo" hatte erstmals zum "Tag der Artenvielfalt" gerufen. Nach dem Motto: Exotik gibt es nicht nur in Papua-Neuguinea, sondern vor der Haustür. 24 Stunden lang wurde auf 12 Quadratkilometern verzeichnet, was nicht schnell genug flüchten konnte, Eichenmaskenlaus, Scheinrüßler, Schöngesichtige Zwergdeckelschnecke, Stoppeliger Drüsling usw. Mal ehrlich, sind das weniger klangvolle Namen als Brecht, Hölderlin, Döblin?

Es ist eine abenteuerliche und amüsante Welt, in die uns "Geo" in seiner neuen Ausgabe führt; in "Mikrokosmos" hatte das einen bezaubernden filmischen Vorläufer. Wenn man das Kleine nur groß genug zeigt, entfaltet es seinen eigenen Reiz. Und so blättert man staunend durch ein Supplement, das alle 2066 gefundenen Tier- und Pflanzenarten auflistet, belustigt sich über den Aufzug von Ornithologen und Froschsuchern im Heft und registriert mit Ärger, dass durch dieses Gebiet einmal die A 20 von Lübeck nach Stettin führen soll.

Fein, wenn ein Magazin seine Möglichkeiten auf so opulente (54 Seiten!) Weise nutzt (bitte beachten Sie: Ein Lob unter Journalisten ist selten wie der Vierpunktige-Ameisen-Sackkäfer). Denn eines Tages werden wir feststellen, dass man Bücher nicht essen kann und dass wir die Asseln nur von unseren Kindern geliehen haben. Deshalb ist Christian Schmidt ein Asselpapst, und sei es nur für heute. So viel Freiheit muss auch im Goethejahr sein - ein älterer Herr in Frankfurt mag das verzeihen.

Zur Startseite