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Kultur: Experimentelles Theater beim euro-scene-Festival in Leipzig

Als seien sie aus Ibsens "Peer Gynt"-Trollwelt entsprungen, so stehen die weißgekalkten Tänzer-Darsteller der Compagnie Maguy Marin auf der leeren Bühne. Wenn sie sich langsam in Bewegungen hineinquälen, hinterlassen sie ihre Schleifspuren auf dem Boden, bis er ganz weiß ist.

Als seien sie aus Ibsens "Peer Gynt"-Trollwelt entsprungen, so stehen die weißgekalkten Tänzer-Darsteller der Compagnie Maguy Marin auf der leeren Bühne. Wenn sie sich langsam in Bewegungen hineinquälen, hinterlassen sie ihre Schleifspuren auf dem Boden, bis er ganz weiß ist. Die Lyoner Tanzgruppe zeigt mit "May B" ein Bewegungsstück über die Unbeweglichkeit, über das Warten. Figuren und Motive aus Becketts "Endspiel", aus "Glückliche Tage" und aus "Warten auf Godot" tauchen in dieser skurrilen kleinbürgerlichen Lemurenschar auf, die ihren Weg über die Bühne und durch die nur scheinbare Leere des alltäglichen Lebens in urkomischen und zugleich hochartifiziellen Bewegungen zieht. Mit "May B" setzte eine uralte, bereits 1981 entstandene Produktion den umjubelten Schlusspunkt der 9. euro-scene in Leipzig.

Zum Auftakt präsentierte das Festival Liviu Purcaretes "Phaedra". Die 1993 noch in Craiova entstandene Inszenierung des mittlerweile in Frankreich lebenden Regisseurs wirkte in Leipzig allerdings arg verstaubt, trotz faszinierender Szenen mit einem krückstockbewehrten Chor als Vertreter des Volkes gegenüber der Macht.

Leipzigs euro-scene ist ein Festival mit ganz eigenen Absichten. Den Festival-Marktgesetzen, die nur Neuigkeiten und den Mainstream des europaweit kompatiblen Avantgarde-Theaters erlauben, beugt man sicht hier nicht. Zwar hat man in diesem Jahr bei 15 Gastspielen immerhin sieben Erstaufführungen zeigen können. Aber in Leipzig werden Theater nicht eingeladen, weil sie neu und von heute, sondern weil sie heutig sind. Theater der reinen Form wird man hier nicht finden. Aber Theater, das neben seiner bewussten Form auch einen Sinn sucht, das sich mit der Gesellschaft auseinandersetzt.

1991 entstanden, hat sich Ostdeutschlands einziges jährliches Theaterfestival von Beginn an auch der Aufgabe verschrieben, die experimentellen Theaterformen aus Ost und West miteinander zu konfrontieren. Das diesjährige Kontrastprogramm bestritten Gruppen aus Dänemark, Frankreich, Rumänien, Griechenland, England, Polen, der Schweiz und Deutschland. Drei Programmschwerpunkte gab es: einen eher schwachen mit "live-art" aus Deutschland, der Schweiz und England (originell immerhin die Nottinghamer "Reckless Sleepers" mit "Schrödingers Box", einem artistischen Spiel in einem Bühnenkasten mit vielerlei Öffnungen um erkenntnistheoretische Fragen). Salome als Geschichte um Schönheit, Macht, Eros und Tod, spätestens seit Einar Schleef und Neville Tranter wieder für die Bühne entdeckt, wurde von drei völlig unterschiedlichen, aber allesamt nicht überzeugenden Annäherungsweisen aus Berlin, Kopenhagen und Paris/Warschau präsentiert.

Am spannendsten war der Schwerpunkt, der sich Leipzigs Partnerstadt Lyon widmete. Neben Maguy Marin war die Compagnie Turak mit Objekttheater für Kinder und Erwachsene von Michel Laubuzu sehen. Und die aus professionellen Darstellern und Laien zusammengesetzte Compagnie Image Aigue gab mit "Nandri - De Lorient a¡ Pondichery" ihren Kommentar zum Thema "Fremdsein im eigenen Land" - Kinder und Erwachsene bereiten sich dabei auf eine (auch metaphorische) Reise vor und bauen in einem mitreißenden Theaterspektakel aus ihren Koffern einen Turm zu Babel. Herausragend auch die von origineller, eckig gezirkelter und zugleich ruhig fließender Bewegungssprache geprägte Tanzversion von Goethes "Faust" duch die Compagnie Philippe Saire aus Lausanne zur kammermusikalischen Livemusik von Daniel Perrin. Abschließender Publikumshit aber war zum dritten Mal der Wettbewerb um das "Beste Deutsche Tanzsolo" auf dem runden Tisch mit seinem Durchmesser von nur sieben Metern. Rund hundert Tänzer hatten sich dafür beworben.

Die euro-scene hat sich etabliert, trotz eines diesjährigen Jahrgangs mit Licht und Schatten. Beim meist jungen Publikum (die Vorstellungen waren zu 90 Prozent ausverkauft) wie bei den Politikern. Leipzigs Oberbürgermeister und Sachsens Kulturminister eröffneten gemeinsam das Festival, und von Kulturstaatsminister Naumann hat man aus dem Aufbauprogramm Neue Länder einen Zuschuss bekommen. Zwar muss man noch immer mit weniger als einer Million Mark auskommen, doch auch die reichten der euro-scene Leipzig für ihre ganz eigene Erfolgsgeschichte.

Hartmut Krug

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