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Kultur: Fahrstuhl zum Bankrott

In die Ökonomie sind alle schuldhaft verstrickt: Sascha Rehs Börsenroman „Gibraltar“.

Was ist mit dem Geld?“ Knapper als mit dieser Frage könnte man jene Krise, die seit über einem halben Jahrzehnt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Zukunft unserer Gesellschaft zersetzt, wohl kaum charakterisieren. In Sascha Rehs nach „Falscher Frühling“ zweitem Roman „Gibraltar“ wird sie von Thomas Alberts gestellt, dem verlorenen Sohn des Bankenpatriarchen Johann Alberts. Letzteren hat die plötzliche Pleite seiner Bank gleich aufs Sterbebett befördert. Gerichtet ist die Frage von Thomas Alberts aber an seinen Nachfolger Bernhard Milbrandt, nachdem Thomas ihn in seinem spanischen Versteck aufgespürt hat.

Während der leibliche Sohn für die Bankgeschäfte des Vaters seit Jahren nur schneidende Verachtung übrig hat, ist Bernhard, Johann Alberts Ziehsohn, bis zu seiner Flucht als Spekulant ein Überzeugungstäter gewesen. Einer dieser bösen Banker, von denen es gern heißt, sie stürzten ganze Volkswirtschaften in den Abgrund. Indem sie deren Staatsanleihen „leer“ verkaufen, also auf fallende Kurse setzen. Bernhard Milbrandt selbst beschreibt seine Tätigkeit so: „Ich kaufe billig Handgranaten ein und ziehe die Sicherungssplinte. Dann verkaufe ich sie möglichst teuer weiter. Wer die Granaten noch hat, wenn sie explodieren, hat verloren."

Bei den verkauften Handgranaten handelt es sich um geliehene griechische Staatsanleihen. Bernhard Milbrandt wettet für das fiktive Bankhaus Alberts und Co. im großen Stil auf eine Pleite Griechenlands. Am Ende explodieren die Granaten wirklich, nur anders als gedacht. Als im Frühjahr 2010 allen EU-Verträgen zum Trotz Griechenland erstmals „gerettet“ wird und sich seine Anleihen vorübergehend erholen, muss die traditionsreiche Berliner Privatbank die Anleihen teuer zurückkaufen - und geht bankrott.

Ehe Bernhard Milbrandt untertaucht, zweigt er immerhin noch etliche Millionen für sich selbst ab. Und versteckt sich, ausgerechnet, in einer der vielen seit der Finanzkrise halbfertig gebliebenen Appartementanlagen an der spanischen Küste, um von dort aus das unterschlagene Vermögen über eine Offshore-Bank auf Gibraltar in Sicherheit zu bringen. Der Titel dieses Romans, „Gibraltar“, steht damit für die Utopie, die allumfassende „Verschuldungskette“ durchbrechen zu können, die sämtliche Figuren des spannend zu lesenden Romans miteinander verbindet – und die selbstverständlich Utopie bleiben wird.

Man sieht: So aktuell wie bei Sascha Reh, der 1974 geboren wurde, ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur selten. „Gibraltar“ setzt den Trend zum Wirtschaftsroman fort, nach „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz, „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ von Nora Bossong oder den Romanen eines Ernst-Wilhelm Händlers. Schade nur, dass dem in Berlin lebenden Autor der Lapsus unterläuft, Anleihen für eine Form der Aktie zu halten und sein burnoutgeplagter Toptrader Bernhard Milbrandt vor Klischees nur so strotzt. Da erinnert man sich gern an Martin Walsers Roman „Angstblüte“, der davon wusste, wie eng Spekulation auch mit Lebenskunst und Glück zusammenhängt.

Wie schon in seinem viel gelobten Romandebüt „Falscher Frühling“ aus dem Jahr 2010 greift Sascha Reh auch diesmal zum literarischen Mittel der Multiperspektivität. In sechs Kapiteln lässt der nebenberuflich als Familientherapeut arbeitende Schriftsteller gleich sechs Figuren zu Wort kommen: Neben Thomas Alberts und Bernhard Milbrandt sind dies noch Thomas' Eltern Johann und Helene sowie Bernhards an Schizophrenie erkrankte Stieftochter Valerie, die einst Thomas' Patientin war, und deren lebensgierige Mutter Carmen. Stilistisch unterscheiden sich die Figurenkapitel in ihrem psychologischen Realismus nur wenig, abgesehen von der eindrucksvollen Darstellung der Innensicht Valeries, die sich dauernd gegen die imaginären Vorwürfe diverser „Aktionäre“ wehren muss, und der nur wenig glaubwürdigen Rechtfertigungssuada des komatösen Johann Alberts. Über ihn, der sich selbst als Vertreter traditioneller Unternehmerwerte feiert, heißt es schon im Roman, er höre sich an wie ein FDP-Wahlprogramm.

Jedes der großen Kapitel ist in diverse Unterkapitel gliedert; bezeichnenderweise sind sie nach Art einer abwärts zählenden Fahrstuhlanzeige markiert. Tatsächlich wird die Geschichte mit jeder weiteren Figurenperspektive abgründiger, treten immer neue Abhängigkeiten, Manipulationen und schuldhafte „Verstrickungen“ zutage. Thomas Alberts beispielsweise zieht, seit dem Bruch mit seinem Vater, als moderner Nomade durch die Metropolen Europas und berät als Supervisor mit seinem Smartphone deutsche Angestellte – die zu seinem eigenen Erstaunen häufig aus dem Bankhaus Alberts stammen. Es war sein Vater, der einst die Werbeflyer seines aufsässigen Sohnes voller Stolz im eigenen Unternehmen verteilen ließ – und Thomas so den Lebensunterhalt sicherte.

Johann Alberst wiederum war, wie sich zeigt, seit Jahren nur eine Marionette an der Fäden seiner Frau Helene, Thomas' Mutter, die eine eindrucksvolle Karriere als Hochstaplerin hinter sich hat – und selbst wiederum, ohne ihr Wissen, von einem dritten gelenkt wurde. Schulden, erinnert sich Helene an einen Ausspruch ihres Mannes, seien der „Kristallisationspunkt für Benachteiligung“, die „erste und schwerste Fessel, die es abzustreifen gelte“ – weshalb Johann eine Stiftung für überschuldete Menschen (unter ihnen auch Valerie) gegründet hat, von denen er als Banker freilich lebt.

Sascha Rehs Roman „Gibraltar" zeigt auf überzeugende Weise modellhaft, wie sehr letztlich (wir) alle mit dem Finanzsystem verstrickt sind und, bei aller Kritik, von ihm profitieren. Das macht ihn zum Roman jener Generation Occupy, deren ratlose Empörung genauso wohlfeil ist wie das Kunstblut, mit dem Valerie am Ende vor Gericht ihren Stiefvater überschüttet. Oliver Pfohlmann

Sascha Reh:

Gibraltar. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2013.

464 Seiten, 22,95 €

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