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Szene aus dem Film „Männer al dente“, einer Tragikomödie von Ferzan Özpetek

© Prokino

Familienethik: Die Pflichten der Liebe

Was schulden Kinder ihren Eltern und umgekehrt? Zwei neue philosophische Bände vermitteln einen spannenden Einblick in die Familienethik.

Ein großer Tisch, die Familie ist versammelt. Hinter dampfenden Schüsseln versteinerte Gesichter. Aber dann fällt ein einziges Wort – und alle brechen in Gelächter aus. Wie gut sie einander kennen! Wie beglückend Nähe sein kann. Was hält die Mitglieder einer solchen Familie zusammen? Und wie lässt sich trotzdem das eigene Leben gut führen?

Die Familie war schon immer ein Stoff für Dramen, Romane und Filme. Seit rund drei Jahrzehnten wird sie auch philosophisch diskutiert. Zuerst im englischsprachigen Raum, allmählich auch hierzulande. Zwei in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft erschienene Bände mit Aufsätzen zur Familienethik vermitteln einen spannenden Überblick: „Von Person zu Person“, herausgegeben von Beate Rössler und Axel Honneth, und „Familiäre Pflichten“, in dem Monika Betzler und Barbara Bleisch die Texte kommentieren.

Menschen wollen ihr Leben moralisch führen

In beiden Büchern weht ein kühler Wind der Analyse. Es geht um moralische Normen, um die Begründung wechselseitiger Ansprüche, um familiäre Rechte und, ja, tatsächlich auch um Pflichten. Der verpönte Begriff taucht sogar dreifach auf: als parentale Pflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern, als filiale der Kinder gegenüber ihren Eltern und als fraternale, durch die Geschwister verbunden sind. Nimmt man die pauschale Rede von einer alternden Gesellschaft ernst, sollte die Klärung filialer Pflichten Vorrang haben: Die Lebenserwartung steigt, und immer mehr ältere Menschen haben hochbetagte Eltern. Ist es gerechtfertigt, dass sie spezielle Erwartungen und ihre Kinder besondere Pflichten haben? Vorausgesetzt, alle Menschen sind gleich – warum gilt dann in der Familie nicht auch die universale Moral?

Weil uns eben nicht alle, sondern nur einige Menschen so viel bedeuten, dass sie einen besonderen Wert für unser Leben haben. Im Sinn dieser Logik rechtfertigt der an der New York University lehrende Samuel Scheffler die Extramoral. Er sieht Menschen als soziale Geschöpfe mit Werten. Und weil zu dem, was sie vor allem wertschätzen, ihre persönlichen Beziehungen gehören, nehmen sie auch die Pflichten an, die sie als „Beteiligte bedeutsamer Beziehungen“ betreffen. Sie wollen ihr Leben moralisch führen.

Zwang und Freiwilligkeit

Ganz so einfach kann es aber nicht sein, sonst wäre der Begriff der Pflicht nicht derart unbeliebt. Er passt nicht zur Freiheit der Selbstbestimmung. Filiale Pflichten widersprechen der Autonomie, einem der wichtigsten Werte zeitgenössischer Menschen. Scheffler plädiert denn auch für Versöhnung damit, dass es Dinge gibt, die für das eigene Leben entscheidend sind – ohne dass sie gewählt und gewollt sind. Kein Vertrag wurde unterschrieben, kein Versprechen gegeben, niemand wurde gefragt, und doch ist jeder familiär gebunden.

In der Philosophie sind es die sogenannten Voluntaristen, die sich wünschen, dass für alles Tun und Lassen der eigene Wille leitend sein soll. Das familiäre Mitgefangen-Mitgehangen wird für sie zu einer Herausforderung, die Diane Jeske annimmt. Die bekennende Voluntaristin aus Iowa stellt klar, dass filiale Pflichten nur gelten, wenn sie freiwillig sind. „Familienbeziehungen als solche sind zwar unfreiwillig“, schreibt sie, „doch enge, vertraute Beziehungen zwischen Familienmitgliedern sind es nicht, und es sind diese Beziehungen, die besondere Verpflichtungen zwischen den Familienmitgliedern begründen.“ Pflichten der Liebe, der Vertrautheit, der Freundschaft, soll das heißen, sind akzeptabel. Sie werden bejaht und gewollt. Aber sind sie überhaupt Pflichten, ohne den Stachel des inneren Widerstands?

Wann hören Pflichten auf?

Emotionale Motive können jedenfalls überzeugend begründen, warum Menschen füreinander sorgen wollen. Die Biologie allein, da hat Jeske recht, reicht nicht aus. Ihr Beispiel ist drastisch: Wenn eine Tochter (wie in Costa-Gavras’ Film „Music Box“) von den jahrelang verheimlichten Kriegsverbrechen ihres Vaters erfährt, dann ist sie ihm nichts mehr schuldig, er hat ihr Vertrauen missbraucht.

Und doch – denn nicht selten schlagen zwei Seelen in einer Mörderbrust – hat der Vater vielleicht rührend für sein Kind gesorgt. Dann wäre die emotionale Nähe entstanden, die als Nährboden verbindlicher Pflichten gelten könnte. Wie schwer es doch ist, eine Linie zu ziehen, um filiale Pflichten zu begrenzen.

Auch die positive Bestimmung fällt nicht leicht. Um bei der intakten Familie zu bleiben: Wenn der Tag da ist, an dem alte Eltern nicht mehr alleine zurechtkommen: Was sollen die Kinder dann konkret für sie tun? Der im neuseeländischen Wellington lehrende Simon Keller kritisiert drei Theorien filialer Pflichten: die der Dankbarkeit, der Schulden, aber auch die Freundschaftstheorie, um seine eigene, die sogenannte Spezielle-Güter-Theorie, zu entwickeln.

Kinder wissen, welche Bedürfnisse ihre Eltern haben

Wieder spielt Vertrautheit eine entscheidende Rolle. Nicht nur die Eltern kennen ihre Kinder. Auch die Kinder wissen, welche Interessen, Wünsche und Bedürfnisse ihre Eltern haben. Mit diesem Fundus sind die filialen Pflichten verbunden. Dabei geht es um spezielle Güter, die sich weder delegieren noch kaufen lassen. Das bedeutet, dass die Kinder zum Beispiel den Lieblingskuchen backen, den Geburtstag nicht vergessen und sich am Telefon Zeit zum Erzählen nehmen.

Kellers Vorschlag ist schön und gut und eine brauchbare Orientierung. Aber sollten die Pflichten sich tatsächlich darauf beschränken, nur die Beziehung zu den gebrechlichen Eltern und nicht auch deren Körper zu pflegen? Claudia Mills überrascht zunächst mit einem vollkommen anderen Blick auf das Unfreiwillige der familiären Bindung: Sie sei eine Tatsache, die man schätzen sollte. Ist es nicht gut, ein Mal davon entlastet zu sein, selbst wählen und entscheiden zu müssen? Als Mitglied einer Familie gehört man einfach zusammen.

Anerkennung für Pflege bleibt aus

Mills stimmt mit Keller darin überein, dass Kinder nur verpflichtet sind, den Kontakt zu ihren Eltern zu pflegen. Aber auch die Eltern sollten das ihre tun, um die Beziehung lebendig zu gestalten. Und wenn sie vielleicht dement oder anders dazu außerstande sind? Dann werden die Kinder im Prinzip entlastet. Sie schulden ihnen „keine Leistungen, die problemlos durch andere erbracht werden können, wie grundlegende Pflege- und Versorgung oder finanzielle Unterstützung“.

Bei der Lektüre wächst ein Unbehagen. Offenbar bleibt nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in diesen philosophischen Texten die Anerkennung derjenigen aus, die privat oder professionell für alte Menschen handfest sorgen. Ein dunkler Punkt, den Ursula Wolf bemerkt. Die in Mannheim lehrende Philosophin verwirft den Trend der „Emotionalisierung und Entmaterialisierung“, sie verweist auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes. Demnach müssen Kinder ihre Eltern materiell unterstützen, vorausgesetzt, diese haben für das Kleinkind gesorgt.

Rückgabepflicht der Kinder wäre gegen Ziele der Eltern

Ursula Wolf gibt allerdings zu, dass die Frage filialer Pflichten zu den „schwierigsten und strittigsten“ der Familienethik gehört. Nicht zuletzt wegen einer paradoxen Zirkelstruktur: Was haben Eltern von ihren Kindern zu erwarten, wenn sie gute Eltern waren? Nichts. Weil sie dann nur wollen, dass ihre Kinder so leben, wie sie von ihnen erzogen wurden – autonom und selbstbestimmt. Eine Rückgabepflicht der Kinder würde einen Strich durch die Ziele der Eltern ziehen. Vor allem hätten Kinder dann auch nicht mehr die „Zeit und Mittel, sich ihrerseits intensiv um ihre eigenen Kinder zu kümmern“. Welche Antworten werden künftige Generationen auf die Frage filialer Pflichten finden?

Die Vorschläge der Philosophen stoßen das Denken an. Und die eigene innere Stimme wird hörbar. Warum sollte man ihr nicht folgen? Sie kennt keine von Dritten einklagbaren Rechte, Schulden und Pflichten. Auch keine Regel, die das Kuchenbacken verlangt und den Katheterwechsel verbietet. Im besten Fall passt der Einsatz zum eigenen Leben, und deshalb fühlt er sich richtig an.

Angelika Brauer

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