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Kultur: Farbenglück

Die abstrakte Republik: Das Haus am Waldsee zeigt Ernst Wilhelm Nays Spätwerk

Die Versuchung ist groß, in dem schwarzen und orangenen Balken rechts und links einen Vorhang zu sehen und in dem weißen Schattenriss vor gelbem Grund dazwischen eine Lichtfigur. Das letzte Werk von Ernst Wilhelm Nay, der im April 1968 mit gerade 66 Jahren nach einem Asthmaanfall in seinem Atelier starb, legt solch eine Interpretation nahe. Nur in seiner Malerei war der Einzelgänger und in den letzten Lebensjahren immer leichter aufbrausende Exzentriker wirklich frei.

Jenes Gebilde, das er in der Mitte seines letzten Gemäldes malte, lässt sich als lockende Figurine beschreiben, die den Betrachter in den Raum hinter der Leinwand geleitet, wo nur noch die Farbe regiert, das Himmelreich der Malerei. Nay ist einer der großen Abstrakten der Nachkriegszeit, der absichtslos aus der Farbe seine Formen entwickelt. Und doch tauchen darin erkennbare Schemen auf, die Silhouetten von Figuren, Händen, Lippen, vegetabiler Gewächse. Hier ließ ein Souverän der Malerei dem Geschehen auf der Leinwand seinen Lauf, ließ darin auch Gegenständliches sich entwickeln, mit der gleichen Leichtigkeit wie der späte Matisse bei seinen Papiers coupés.

Jetzt erst, vierzig Jahre später, scheint die Zeit reif, um diese besondere Leistung der späten Bilder von Ernst Wilhelm Nay zu erkennen. Die 21 im Haus am Waldsee gezeigten Großformate aus seiner letzten Lebensphase sind nicht nur ein Fest der Farbe, sondern auch die Rückholung eines Klassikers in die Gegenwart. Sie geschieht nicht von ungefähr an einem Ort, an dem der gebürtige Berliner über ein halbes Jahrhundert zuvor schon einmal ausgestellt hat. Mit 137 Werken feierte ihn das Haus am Waldsee 1952 als einen der wichtigsten westdeutschen Maler.

Zwar widmet es sich heute vornehmlich dem zeitgenössischen Schaffen, aber einmal im Jahr, im Sommer, wird an die große Vergangenheit des Hauses erinnert, denn hier waren in der Phase des kulturellen Wiederaufbaus der Stadt einst Max Ernst, Pablo Picasso, Oskar Schlemmer und Joan Miró zu Gast. Zuletzt wurde an Henry Moores einstigen Auftritt angeknüpft. Ebenfalls eine Wiederbegegnung Jahrzehnte später.

Wie bei Moore haftet auch der Nay-Ausstellung nichts Gestriges an, sie wirkt frisch, die Bilder strahlen. Olav Christopher Jenssen, der zuvor in den Räumen ausgestellt hat, könnte in Nay seinen geistigen Ziehvater erkennen. Sogar die Farbräusche von Katharina Grosse, die gerade in der Temporären Kunsthalle am Schlossplatz zu sehen ist, nimmt er vorweg. Im Nachhinein erstaunt es, dass damals niemand diese Vitalität, diese Kraft der Bilder eines bislang hoch gelobten Künstlers wahrgenommen hat. Aber nach dem Eklat 1964 auf der Documenta III in Kassel, wo um Nays vier mal vier Meter große Deckenbilder eine heftige Diskussion über abstrakte Malerei entbrannte, war er plötzlich nicht mehr gefragt. Plötzlich hieß es, Nays Kunst sei „nichtssagend“ und Ausdruck einer „rückwärtsgewandten Utopie“.

Sein Freund Werner Haftmann, Direktor der Neuen Nationalgalerie, hat später gesagt, der Künstler sei an gebrochenem Herzen gestorben. Ein Jahr nach seinem Tod widmet er ihm im Miesvan-der-Rohe-Bau eine Gedenkausstellung; es sollte vierzig Jahre lang die letzte institutionelle Ausstellung in seiner Heimatstadt sein. Die Rehabilitation in Berlin hat allerdings schon früher begonnen, denn heute hängen die umstrittenen Documenta-Bilder im Bundeskanzleramt, wo sie auf Nachfrage besichtigt werden können. Zugleich ist Nay in der Ausstellung „60 Jahre – 60 Werke“ im GropiusBau mit einem seiner berühmten „Scheiben“-Bilder von 1955 vertreten.

Ohne Nay ließe sich die bundesrepublikanische Kunstgeschichte nicht schreiben. Der Karl-Hofer-Student ging schon früh seiner eigenen Wege, hatte sich in Paris von den Farb-Licht-Malern zur Abstraktion verführen lassen und erhielt unter den Nationalsozialisten Ausstellungsverbot. Sein eigener enthusiastischer Neubeginn in Köln, nachdem er sich nach dem Krieg zunächst im Taunus niederglassen hatte, verlief parallel mit dem Erstarken der Bundesrepublik. Nay war ein Künstler, der sich anders als Georg Meistermann oder Willy Baumeister international orientierte und auch in den USA gut verkaufte, wo man seine Verwandtschaft mit den Abstrakten Expressionisten sogleich erkannte.

Seine „Scheiben“-und „Augen“-Bilder waren schon in den fünfziger Jahren in New Yorker Galerien und im Museum of Modern Art zu sehen. Nays Prinzip, vom Gestaltwert der Farbe auszugehen und mit vornehmlich runden Formen zu arbeiten, da der Tropfen schließlich der Anfang aller Farbe sei, entsprach dem Kunstverständnis der Amerikaner.

Dieses Prinzip spitzte er in seinen späten Bildern weiter zu, in denen er die räumliche Wirkung wegfallen ließ, alles Expressive mied und durch die Zweidimensionalität der Farbe massive Wirkung verlieh. Plötzlich werden die Negativformen, der Umraum relevant. Grün, Lila, Gelb setzen sich in Spindeln voneinander ab. Lichte, weiße Flecken scheinen zwischen den violetten und roten Flächen auf, von denen man nicht weiß, ob sie zuerst oder zuletzt auf die Leinwand kamen. Farbe und Form gewinnen eine traumwandlerische Balance. Glück strahlt in ihnen auf, eine Vollendung, die nur wenigen Künstlern vergönnt ist.

Wie leichthändig Nay zu seinen Kompositionen fand, lässt sich in der Berliner Galerie Aurel Scheibler studieren. Dort hängen 87 Filzstiftzeichnungen Blatt neben Blatt an zwei Wänden. Insgesamt entstanden 2500 in den letzten drei Lebensjahren während der Abendstunden, wenn das Tageslicht im Atelier nicht mehr reichte. Es sind schnelle Studien, in denen sich Spindeln, Ketten und vegetabile Formen in immer neuen Variationen zusammenfügen. Manche sind am Rand durch Farbbezeichungen ergänzt, andere wiederum besitzen eine bunte Daumenmarkierung, genau dort, wo der Künstler das Blatt beim Malen noch einmal zur Hand nahm.

Trotzdem lässt sich kaum ein exakt nachgemaltes Gemälde finden; der Künstler hatte auf der Leinwand zur vollkommenen Freiheit gefunden, für die es kein Vorher und Nachher gab. Nur die reine Gegenwart, die der Betrachter auch vierzig Jahre später noch spürt.

Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 9. 8.; tägl. 11-18 Uhr. Katalog (Hirmer-Verlag) 29,90 €. Galerie Aurel Scheibler, Witzlebenplatz 4, bis 13. 6.; Di-Fr 10-13/15-18 Uhr, Sa 11-16 Uhr.

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