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Engagieren sich für Neues Musiktheater. Patrice Chéreau, Daniel Barenboim, die Sängerin Anna Prohaska und der Geiger Guy Braunstein im Schillertheater. Foto: Stephanie Lehmann

© Stephanie Lehmann

Kultur: Fauchen aus ferner Zeit

Chéreau und Prohaska eröffnen das Staatsopern-Festival „Infektion!“

Von Gregor Dotzauer

Wie modern Igor Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ vor bald 100 Jahren, im September 1918, auf ihr erstes Publikum in Lausanne gewirkt haben muss, lässt sich nur vermuten. Wie frisch dieses abwechselnd Durchmischung und Entmischung betreibende Miteinander von Text und Musik für ein siebenköpfiges Ensemble aber geblieben ist, zeigt sich jedes Mal, wo die beiden musiktheatralisch bestimmenden Kräfte dieses Seelenhandels, ein Sprecher und ein Geiger, das Geschehen so leichthändig zum Tanzen bringen wie Patrice Chéreau und Guy Braunstein.

Da wird der Teufel fiedelnd zum tönenden Zusammenbruch getrieben, und der Soldat, der ihm seine Violine im Tausch gegen ein ödes Leben in Reichtum überlassen hat, schleppt sich, aus dem Tritt geraten, durch Charles Ferdinand Ramuz’ teils in gereimten Versen, teils in rhythmisierter Prosa gehaltene Geschichte. Patrice Chéreau, den Text in der linken Hand und mit der Rechten interpretierende Gesten entwerfend, beginnt als die Musik skandierend vor sich hertreibender Erzähler, wirft sich temperamentvoll hinein in die Rollen des Soldaten und des Teufels, und übernimmt dann mehr und mehr die Position des Kommentators.

Chéreau, die Musiker des West-Eastern Divan Orchestra und dessen Gründer Daniel Barenboim, der mit diesem ewig jungen Klassiker am Freitagabend im Schillertheater „Infektion!“, sein Festival für Neues Musiktheater, eröffnete, sind bei Strawinsky ein lange eingespieltes Team – und sie konnten eigentlich gar nichts falsch machen. Das Wagnis lag vor der Pause, bei Barenboims europäischer Erstaufführung von Elliott Carters „What are years“ mit Musikern der Staatskapelle und der Sopranistin Anna Prohaska.

Auch hier Text und Musik: fünf Gedichte der Amerikanerin Marianne Moore, gesungen von der alles souverän und befreit tragenden Anna Prohaska inmitten eines fast aktionistisch agierenden Kammerorchesters, das Carter in fünf aufeinander folgenden Instrumentengruppen durch eine hyperkomplexe Partitur rascheln, fauchen und flitzen lässt, bevor sie in der Titelkomposition zusammenfinden. Eine atonale Lektüre literarischen Sinns wie aus ferner Zeit. Denn zeitgenössische Musik und Poesie haben sich, von Ausnahmen wie Wolfgang Rihm oder eben Carter abgesehen, entfremdet.

Beide sind in der Regel viel zu sehr mit dem eigenen Material beschäftigt, als dass sie einander Aufmerksamkeit schenken könnten. Sowohl in der Dichtung hat sich das Poetische vom Gesanglich-Lyrischen abgelöst wie in der Musik des 20. Jahrhunderts: Je mehr sie sich im Konstruktiven objektivierte, um so weniger lag ihr an der subjektiven Innerlichkeit, die man mit dem Element des Lyrischen assoziiert. Für den amerikanischen Spätmodernisten, der „What are years“ 2009 als 101-Jähriger komponierte, ist diese Zeit noch lange nicht vorbei. Wie viele von Carters Vertonungen poetischer Modernisten von Robert Frost bis zu Wallace Stevens verfährt auch sein Moore-Zyklus atmosphärisch verdichtend, ja sogar illustrativ – nicht mehr Lied, doch auch noch nicht Musiktheater, ungeachtet aller dramatischen Qualitäten, die schon durch die expressive Klangsprache entstehen.

Als Rezitatorin ihrer eigenen Texte war die durchaus resolute Marianne Moore elegischer gestimmt. In Anna Prohaskas Interpretation – dem Vortrag der deutschen Übersetzungen wie von Carters mal zart angehauchtem, mal heftig zerrupftem Melos – war die ganze Weite dieser Welt zu hören. Und das, wie man es bei Konzerten mit einer solchen, auf Anhieb nur schwer fasslichen Musik immer halten sollte, glücklich zweimal.

Deutschlandradio Kultur sendet eine Aufzeichnung des Konzerts am Montag, den 4. Juli, um 20.03 Uhr.

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