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Kultur: Feindbild Mischling

Wir wachsen nicht zusammen: Was die deutsche Integrationspolitik falsch macht / Von Zafer Senocak

Geht es in der gegenwärtigen Einbürgerungsdebatte wirklich um die Integration von Fremden in die deutsche Gesellschaft? Oder werden einer durch Masseneinwanderung verunsicherten Gesellschaft nur Beruhigungspillen verschrieben, nachdem die jahrzehntelang verabreichte Immunisierung gegen die Folgen der Einwanderung nicht mehr greift? Ohne Zweifel, wer sich in Deutschland einbürgern lassen will, sollte die Rechtsnormen dieses Landes achten, die deutsche Sprache beherrschen und über Grundkenntnisse zur Landeskunde verfügen. Diese Regeln gehören in jedem Einwanderungsland zum Grundrepertoire der Einbürgerung. Sie sagen aber wenig aus über die Emotionalität der Neubürger, das Gefühl der Zugehörigkeit.

Viele sehr gut ausgebildete und bestens in die deutsche Gesellschaft integrierte Türken denken mit ihrem Herzen türkisch. Sie müssen deshalb nicht gleich türkische Nationalisten sein, aber deutsche Patrioten sind sie auch nicht. Nicht die deutsche Geschichte geht ihnen nahe, sondern die türkische. Wer wirklich Einwanderung möchte, muss diese Tatsache erst einmal anerkennen, wissend, dass der emotionale Faktor nicht mit Fragebögen abgeprüft werden kann und sich auch nicht durch eine Ansprache erledigt. Deshalb gehen Einwanderungsländer wie die USA oder Großbritannien mit diesen Fragen sensibler um. Sie lassen Spielräume zu, in denen die Zuwanderer die Erinnerung an ihre Herkunft in einem neuen Umfeld etablieren können. Sie loten Berührungspunkte aus. Natürlich verändert sich die Erinnerung an die Herkunft mit der Zeit. Sie verändert aber auch die Aufnahmegesellschaft. Einen Garantieschein für gelungene und vollkommene Integration, die man dann allerdings als Assimilation bezeichnen müsste, gibt es nirgendwo. In Deutschland ist man aber auf diese Herausforderung nach wie vor nicht eingestellt.

Ein Übungsheft für die Einheimischen und die Aufnahmegesellschaft sucht man vergebens. Eine Gesellschaft, die aus einem „Zuwanderungsgesetz“ ein „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ macht, ist eben keine Aufnahmegesellschaft. Schon von Beginn an ist jegliche Aufnahme emotional negativ besetzt. Rational wissen wir, dass unsere Gesellschaft Zuwanderung braucht, emotional aber sind wir davon überzeugt, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gibt.

Statt emotionale Nähe zwischen Einheimischen und Zuwanderern zu fördern, wird die Distanz durch kalte administrative Maßnahmen eher noch vergrößert. Bezeichnend ist auch, dass der Fremde im öffentlichen Diskurs, aber auch in seiner Alltagserfahrung mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft ständig an seine Fremdheit erinnert wird. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob es einen emotionalen Zusammenschluss zwischen Einheimischen und Zuwanderern geben kann. Anders formuliert, welche Bedingungen brauchen wir, damit sich der Zuwanderer mit der Aufnahmegesellschaft identifiziert, sich als ein Teil dieser Gesellschaft wahrnimmt?

Eine erfolgsorientierte Aufnahmegesellschaft braucht sehr viel Selbstvertrauen. Nur so kann sie Attraktivität ausstrahlen, und ihr Wille und ihre Bereitschaft zur Aufnahme wird glaubwürdig. Sie braucht aber auch Zuwanderer, die sich auch als solche begreifen, das heißt, die sich nicht nur von der Konjunktur treiben lassen, sondern die den Wandel, dem sie ausgesetzt sind, auch reflektieren und kreativ gestalten. Zum verlogenen Ritual der Integrationsdebatten gehört die Standardaussage, die Einwanderer sollten selbstverständlich ihre Kultur behalten. Man kann eine Kultur aber nicht behalten oder veräußern wie eine Immobilie. Kulturen sind einem permanenten Wandel ausgesetzt. Wie aber wird dieser Wandel gestaltet? Fühlt man sich lediglich als Objekt, als Opfer, oder als Architekt und Schöpfer, als Material, das geformt wird, oder als derjenige, der das Material formt oder zumindest verarbeitet?

Einheimische und Zuwanderer müssen flexibler aufeinander zugehen, in Konfliktsituationen pragmatischer und lösungsorientierter sein. Dies alles ist weder durch Gesetze noch durch Verordnungen zu schaffen. Vielmehr ist die Zivilgesellschaft, sind die Medien und die Kulturpolitik herausgefordert. Wie kann das Vertrauen zwischen Einheimischen und Zuwanderern gestärkt werden? Ohne Vertrauen gibt es keine Anziehungskraft, die zur Identifikation führt. Dass in Deutschland geborene und aufgewachsene Fußballtalente regelmäßig in der türkischen und nicht in der deutschen Nationalmannschaft landen, ist ein Beleg dafür, wie unterentwickelt die Identifikation der Zuwanderer mit der Aufnahmegesellschaft ist. Nicht von der Hand zu weisen ist aber auch, dass ein Großteil der deutschen Gesellschaft sich den Türken als Deutschen nicht vorstellen kann. In dieser Situation kommt man nur weiter, wenn man beide Seiten der Medaille betrachtet und eine pragmatische und keine ideologische Analyse der Situation anstrebt.

Viele Zuwanderer kommen aus ländlichen Regionen und pflegen archaische Sitten und Moralvorstellungen, die in eine offene, liberale, postindustrielle Gesellschaft nicht passen. Sie haben in Deutschland in den unteren Sphären der sozialen Skala Platz genommen, mit geringen Aufstiegschancen. Dass das deutsche Bildungssystem für Kinder aus sozial schwachen Familien nicht gerade aufstiegsfördernd arbeitet, ist kein Gerücht, sondern durch zahlreiche Untersuchungen belegt. Eine pragmatische Integrationspolitik würde genau dort ansetzen. Dass Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft nicht diskriminiert werden dürfen, ist ein hohes Gut, wem das nicht gefällt, sollte sich besser anderswo niederlassen. Doch die Zwangsteilnahme muslimischer Mädchen am Schwimmunterricht verbessert nicht automatisch die Qualität des deutschen Schulsystems. Glaubt man ernsthaft, mit dem Verbot der türkischen Sprache auf Schulhöfen einen guten deutschen Sprachunterricht ersetzen zu können? Welches Verständnis von Sprache verbirgt sich eigentlich hinter einem solchen Denken? Sprache ist nicht nur ein Instrument zur Verständigung, sie ist der Ort, an dem sich menschliches Bewusstsein und das Unbewusste treffen. Türkisch und Deutsch treten in Deutschland nicht gegeneinander an. Denn allzu oft gewinnen oder verlieren sie gemeinsam. Wer möchte, dass die Türken besser Deutsch sprechen, müsste sich dafür einsetzen, dass in Deutschland ein besseres Türkisch gesprochen wird.

Die Vermischung des Deutschen mit „undeutschen“, fremdartigen kulturellen Elementen ist längst Alltag in Deutschland. Es gibt die muslimische Lehrerin, mit oder ohne Kopftuch; der Glaube ist kein Tuch, das man ablegen kann. Längst gibt es Künstler, die in ihren Filmen und Büchern Geschichten erzählen, die ein Deutscher so nicht erzählen könnte. Sie sind keine Ausländer, die Deutschland eine Stippvisite abstatten. Sie sind inzwischen Einheimische und werden dennoch allzu oft als Fremde angesehen.

Da, wo feste, vorgegebene Standpunkte verschwinden, ist auch die Perspektive verschwommen. Das Aufbrechen der eigenen Identitätssphäre empfinden viele Menschen nicht als Bereicherung, wie so oft in Multikulti-Pamphleten gepriesen wird, sondern als ausgesprochen unangenehm, ja als Bedrohung. Dieser Prozess wird dann so erlebt wie ein Eingriff in die Privatsphäre. Mit dem wunderbar altmodischen Satz: „Es wächst jetzt zusammen, was zusammengehört“ beschrieb Willy Brandt einst die deutsche Wiedervereinigung. Damit traf er die emotionale, nationale Stimmung des Jahres 1990, verfehlte aber vollkommen die Herausforderung der Zukunft, die schon 1990 in aller Nacktheit vor das Auge trat. Es wächst inzwischen nämlich zusammen, was nicht zusammengehört.

Zafer Senocak, Jahrgang 1961, lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien der Gedichtband „Übergang“ im Babel Verlag.

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