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Kultur: Fest fürs Leben

Walter Benjamins Bibliothek rekonstruiert

Ein paar Kinderbücher konnte er bei einer Freundin unterbringen, den Hauptteil seiner Bibliothek musste Walter Benjamin zurücklassen, als er 1932 vor dem NS-Regime nach Paris flüchtete. Ein Jahr später gelang es ihm, Teile nachzuholen, aber als Hitlers Armee im Mai 1940 Frankreich überfiel und Benjamin wieder flüchten musste, blieb die Sammlung ein zweites Mal zurück. Im September desselben Jahren nahm Benjamin sich in Port Bou das Leben. Von seiner Bibliothek ist nichts geblieben, kein einziges Buch.

Der Stuttgarter Antiquar Herbert Blank, der auch schon Kafkas verloren gegangene Bibliothek rekonstruierte, hat in Jahrzehnte dauernder akribischer Kleinarbeit nun eine fiktive Bibliothek Benjamins zusammengetragen. Ihre erste öffentliche Präsentation im Rahmen der Ausstellung „Die Unsterblichkeit der Sterne“ im Solinger Museum Baden (Info: www.museum-baden.de) ist eine kleine Sensation. Sie präsentiert etwas, das es so nie gegeben hat. Dreitausend Bände wurden verzeichnet, hunderte werden gezeigt, daneben Zeitschriften, Artikel von Benjamin, Briefe.

Blanks Anspruch war gewaltig. Er hat all das aufgeführt, was Benjamin „irgendwann veröffentlicht, besessen, gelesen, durchgeblättert, konsultiert oder rezensiert hat“, wie es im Katalog heißt. Allein 120 Bücher hatte Benjamin selbst besprochen, von Proust und Apollinaire über Brecht und Döblin bis – das hätte man nicht gedacht – Ernest Hemingway. Von der Art, in der Hemingway in seinen Büchern die „brausende Leere, eine wahre Windhose von Zeit“ beschreibt, war er tief beeindruckt. Regelrecht angewidert dagegen von Ernst Jüngers „Krieg und Krieger“, das er für die Monatsschrift „Die Gesellschaft“ besprach. Fast gegen seinen Willen war er wiederum vom „Zauberberg“ begeistert, dessen Autor Thomas Mann er bis dahin „gehasst habe, wie wenige Publizisten.“ An Kafka, den Benjamin in einem Essay zur „zehnten Wiederholung seines Todestages“ 1934 rühmte, kam freilich keiner heran.

Herbert Blank arbeitete sich durch das Ausleihverzeichnis Benjamins in der Berliner Staatsbibliothek und an dem von ihm selbst verfassten Verzeichnis gelesener Bücher entlang, beachtete Lektüreerwähnungen auf Zetteln oder in Kladden und pickte jede Autorenerwähnung auf. Und da er die Fundstücke nicht nur sammelte, sondern auch vermerkte, in welchem Zusammenhang Benjamin welches Buch gelesen hat, welchen Weg es in sein Werk fand oder wie er sich in Briefen zum Beispiel an Gershom Scholem darüber äußerte, entsteht nicht nur das Porträt eines manisch Lesenden, sondern auch eine einzigartige Geistesgeschichte. Die literarischen Diskurse einer ganzen Jahrhunderthälfte werden lebendig.

Benjamin liebte Krimis, die er vor allem im Zug las, Gedichte von Morgenstern und seine Kinder- und Märchenbuchsammlung, die von Aesop bis zu den „Geschichten des kleinen Elefanten Babar“ reicht, die im Frankreich der dreißiger Jahre sehr angesagt war. Und noch eine Überraschung: Die Ikone der Linken besaß nur eine Handvoll marxistischer Schriften. Andreas Schäfer

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