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Industrie-Kathedrale: Das ehemalige Heizkraftwerk in Mitte.

© Camille Blake

Festival Berlin Atonal im Kraftwerk: Fünf Tage lebensverändernder Krach

Das Donnergrollen der Apokalypse: Das Musikfestival „Berlin Atonal“ im Kraftwerk ist eröffnet und wartet mit wummerigen Beats und verstörend atonaler Musik auf.

Unheilvolle Geräusche kriechen aus dem Keller nach oben – es knirscht, rumpelt, fiept und brummt bis in den letzten Winkel des ehemaligen Heizkraftwerks Mitte. Das „Berlin Atonal“-Festival hat begonnen. Auch in der dritten Runde seit seiner Wiederbelebung im Sommer 2013 haben die Veranstalter ein Programm auf die Beine gestellt, das fünf Tage lang donnernde Rhythmen und dröhnende Vibrationen bietet. Dabei ist schon das Betreten des Kraftwerks fast eine bewusstseinserweiternde Erfahrung: Die Industrie-Kathedrale, die auch den Tresor-Club beherbergt, hat sich mit ihren 30 Meter hohen Decken und verschiedenen Ebenen als idealer Ort für das Festival erwiesen. Bereits von 1982 bis1990 präsentierte es eine Musik, die sich vom experimentellen Sägen der Subkultur-Szene um die Einstürzenden Neubauten bis zum DJ-Set von Techno-Ikone Jeff Mills an der Schnittstelle von Geräuschmusik und Clubkultur bewegt.

Der Chor der Kulturen der Welt eröffnet das Festival mit einer ergreifend schönen Gesangscollage, bevor der steinalte Keyboard-Wizard und Robert-Moog-Kumpel David Borden mit dem Mother-Mallard-Ensemble auftritt, das als erste Synthesizer-Band die Basis für Elektropop und Minimal-Techno legte: drei Musiker, die mit ihren Keyboards alles abgrasen, was zwischen Johann Sebastian Bach, Terry Riley und Keith Emerson so gewachsen ist. Später kommt noch Bordens Sohn dazu und schließt seine E-Gitarre an den Space-Rock-Orbit an. Nicht gerade der allerneueste Ansatz, aber diese Musik erzeugt mit jedem Takt mehr Trance als zehn neue Trance-CD-Sampler zusammen.

Die Radikalität der Musik

Hypnotisch auch der Auftritt von Max Loderbauer und Jacek Sienkiewicz, die vor vernebelten Bergen, die in einer riesigen Video-Film-Projektion zu sehen sind, mit pastoralen Klangstürmen eine untergehende Welt beschwören. Irre, wie das in dem Raum klingt, voller Echos und Hall, mit einem Bass, der wie aus feuchten Kellern nach oben schallt, so geisterhaft und dumpf, als hätte man ein Blutgerinnsel im Ohr.

Weitere Höhepunkte sind für das Wochenende zu erwarten. Zu ihnen gehört zweifellos der Auftritt des New Yorker Violinisten und Minimal-Pioniers Tony Conrad. Zusammen mit der Krautrock-Legende Faust führt er am Sonnabend das monumentale Drone-Stück „Outside the Dream Syndicate“ von 1973 auf. Noch heute vermittelt es eine Vorstellung davon, wie radikal Musik sein kann.

Mit dabei sind außerdem der Dubstep-Psychedeliker Shackleton und sein Powerplant-Projekt, die Industrial-Veteranen Clock DVA und der Dark-Ambient-Spezialist Lustmord. Hervorzuheben ist auch Pierre Bastiens Installation „Mecanology in 4 Rooms“, die im Untergeschoss mit mechanischen Rhythmusmaschinen aus Alltagsgegenständen ein aufgeregtes Rattern entfesselt. Neu ist eine zweite Bühne, die jeweils ab Mitternacht bespielt wird, parallel zum Aftershowprogramm in den ansässigen Clubs.

Dabei wird es an diesen Tagen wesentlich wummeriger und verstörend atonaler zugehen als beim Auftritt vom Alessandro Cortini. Ihn kennt man vor allem als Keyboarder der Industrial-Rocker Nine Inch Nails. Bevor er am Sonnabend sein Album „Sonno“ vorstellt, rauscht er mit dem Australier Lawrence English durch einen dunkel mäandernden Strom, an dessen Rändern ein paar zarte Melodien fließen.

Danach ist die Welt nicht mehr dieselbe

Mit geschlossenen Augen nach innen horchen und gleichzeitig hellwach die Umgebung aufnehmen sollte man aber unbedingt am nächsten Tag beim Auftritt des Mogwai-Gitarristen Barry Burns mit dem Elektrobastler Kangding Ray. Sie haben ihr Projekt SUMS speziell für das Kraftwerk entwickelt. Mit wabernden Synthies und flackernden Stromgitarren sowie einem kratzigen Kontrabassisten und einem Perkussionisten an der Kesselpauke entsteht eine Musik von atemberaubender Dichte, die das begeisterte Publikum mit einprägsamen Postrock-Schunkelmelodien und behutsamen Dubstep-Anklängen in eine Welt voller Zwielicht entführt.

Einiges verspricht auch die Performance des Elektrovandalen Jonas Rönnberg alias Varg, der vier Leute aus der skandinavischen Noise- und Experimental-Szene mitbringt. Ein Mann und eine Frau werden abwechselnd ans Mikro gehen, einander später die Hände in den Rachen stecken und sich liebevoll die weißen Hemden vollkotzen, bevor alles von einem ohrenzerfetzenden Feedbackgetöse verschluckt wird. Danach wird man nicht mehr dieselbe Welt wie zuvor bewohnen. Aber das wird man wohl erst merken, wenn man – betäubt und von einer tiefen Ruhe erfüllt – in einem der Strandkörbe im Garten des Kraftwerks sitzt und über sich die Sternschnuppen dahinsausen lässt.

22. und 23.8., Kraftwerk, Köpenicker Str. 70, www.berlin-atonal.com

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