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Drei von sechs: Anomalia Chikh, Aude und Lisa Zenner (v.l.n.r.)

© Mike Wolff

Festival de la chanson française in Berlin: Paris liegt in Treptow

Beim Festival de la chanson française treten frankophone Künstlerinnen auf, die in Berlin leben. Ein Besuch im kleinen Theater Corbo, das das Festival ausrichtet.

Lisa Zenner späht durch die Glastür nach draußen ins Dunkle: „Ob Aude und Anomalia die Adresse wohl finden?“ fragt sie sich besorgt. Die Kiefholzstraße in Treptow, an der die Kleinkunstbühne des Theaters Corbo liegt, sei „nach wie vor eine etwas finstere Ecke.“ Man merkt immer noch, dass das hier zu Mauerzeiten totes Land war. Es ist schon öfter vorgekommen, dass Besucher das Theater nur schwer gefunden haben. Dabei liegen Neukölln und Kreuzberg um die Ecke. „Wenn ich unsere Veranstaltungen anmoderiere, frage ich die Gäste oft, wer an dem Abend zum ersten Mal den Kanal Richtung Treptow überquert hat – und ob sie dafür ein Buschmesser gebraucht haben“, erzählt Lisa Zenner. Meistens meldeten sich dann ein bis zwei Leute – oft Kreuzberger oder Neuköllner. Auch die französische Sängerin Aude war vorher noch nie im Corbo.
An diesem ungemütlichen Novemberabend treffen sich hier drei frankophone Musikerinnen, um über französische Chansons in Berlin und das „Festival de la Chanson française“ zu sprechen, das vom 20. bis 22. November hier stattfinden wird. An drei Abenden treten sechs Künstler auf, die meisten von ihnen in Deutschland lebende Franzosen. Lisa Zenner, Aude und Anomalia Chikh werden dabei auf der Bühne stehen.

An den Wänden hängen alte Noten und Konzertplakate

„Es gibt einige Franzosen in Berlin, die Musik machen. Mit dem Festival wollen wir zeigen, wie unterschiedlich und vielseitig diese Kultur ist“, erklärt Zenner, eine sehr präsente Frau mit eindringlichem Blick, den sie durch einen schwarzen Strich am unteren Lid noch betont. Sie ist die Gastgeberin. Die 47-Jährige kam 2008 aus Straßburg nach Berlin, um gemeinsam mit einer Kollegin das Corbo zu gründen. Die beiden mieteten eine leer stehende Pizzeria und verwandelten sie mit Klappsitzen aus einem DDR-Hörsaal, alten Schulstühlen und Flohmarktlampen in ein kleines Theater. Meist wird hier deutsches Chanson geboten, die beiden haben etwa das traditionelle Chansonfest Berlin an ihre Bühne geholt. Aber Lisa Zenner sorgt auch für einen französischen Touch. Sie singt und komponiert auf Französisch, denn sie hat viele Jahre in frankophonen Ländern gelebt. Zwischen Tresen und Bühne hat sie eine „Chanson-Ecke“ eingerichtet. Da hängen alte Noten und Konzertplakate aus den Vierzigern – Geschenk von einem Onkel. Aude ist immer noch nicht da. Anomalia Chikh ist zwar irgendwie schon angekommen, aber noch nicht vollständig: Eine aschblonde Frau, hübsch, aber etwas unscheinbar, sehr zurückhaltend, fast schüchtern. Sie spricht leise. Den Namen, der in ihrem Ausweis steht, mag sie nicht preisgeben. Denn Anomalia Chikh ist eine Kunstfigur, ein Bühnen-Alter-Ego. In das verwandelt sich die Mittdreißigerin, die seit 15 Jahren in Berlin lebt, indem sie eine grüne Perücke aus einer Plastiktüte holt und aufsetzt. Noch eine Halskette aus großen bunten Perlen umgelegt – fertig. Schon spricht sie ganz anders – lauter und hält sich anders – gerader. Auf die Bühne zu gehen, ohne sich hinter einer Kunstfigur zu verstecken, das käme für sie nie infrage: „Meine Chansons vermitteln Emotionen. Als ich selbst wäre es zu schwierig für mich, diese zu zeigen.“ Manchmal melodisch, manchmal schrill singt sie etwa über Berliner Menschen. Auf Deutsch oder Französisch. In „Die Dame“ geht es um eine alte Flaschensammlerin, die sie auf einem Bahnhof beobachtet hat. „Ich liebe diesen Raum,“ sagt sie über das Corbo. Vor allem wegen des E-Flügels. „Darauf zu spielen ist besonders.“

"In Berlin hören die Leute wirklich zu, anders als in Paris", sagt Anomalia Chikh

Drei von sechs: Anomalia Chikh, Aude und Lisa Zenner (v.l.n.r.)
Drei von sechs: Anomalia Chikh, Aude und Lisa Zenner (v.l.n.r.)

© Mike Wolff

Ganz außer Atem kommt jetzt endlich Aude durch die Tür. Entschuldigt sich mit einem charmanten Lächeln. Die 27-Jährige wirkt sehr mädchenhaft trotz des kurzen Garçon-Haarschnitts. Es passt zu ihr, dass sie nur ihren Vornamen verwendet. Sie komme gerade von der Arbeit in Wilmersdorf – und das mit den Öffentlichen. Genau wie Anomalia Chikh arbeitet Aude als Musikpädagogin mit Kindern, von ihren Auftritten allein können beide nicht leben. Während die Kulturwissenschaftlerin Anomalia Chikh aber als Autodidaktin und übers Jodeln zur Musik kam, hat Aude in Paris klassische Musik und Jazz studiert. „Ich denke, ich mache Chansons – aber eine komische Art: Ich will klassische Chanson wie die von Barbara und Brassens zusammenbringen mit elektronischer Musik, Poesie von Apollinaire und den Symbolisten. Zusätzlich arbeite ich mit Geräuschen, etwa Stimmen oder Flugzeuglärm.“ Ein bisschen verträumt klingt das, was dabei herauskommt. Dazu spielt sie Gitarre. „Berlin hat eine spezielle Energie, die in meine Musik geflossen ist.“ Als sie vor vier Jahren herkam, begann sie zunächst auf Englisch zu singen. „Weil ich nicht so gut Deutsch konnte, aber ich wollte, dass die Leute mich verstehen. Jetzt bin ich wieder im Französischen gelandet.“ Wenn sie über den Umzug von Paris nach Berlin spricht, klingt das wie eine Liebesgeschichte: „Nach dem Studium habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr in Paris verliebt war. Ich hatte aber wunderschöne Erinnerungen an einen Sommer in Berlin.“ Anomalia Chikh, die vor 15 Jahren als Erasmusstudentin nach Berlin kam, blieb ebenfalls aus Liebe – allerdings zu einem Menschen.

Beide Französinnen sind auch nach Jahren noch immer fasziniert von der Musikszene in der Stadt: „Du kannst irgendwo in eine Kneipe gehen und plötzlich spielt dort jemand experimentelle Musik“, sagt Anomalia Chikh. „Und die Leute hören aufmerksam zu – in Paris ist das ganz anders“, sagt Aude. Beide haben schon oft in Bars gespielt. Doch sie sehen auch den Haken an der Sache: „Die Berliner haben sich daran gewöhnt, dass sie Kunst überall und jederzeit kostenlos bekommen“, sagt Lisa Zenner. „Deswegen sind sie oft nicht bereit, 15 Euro Eintritt für Konzerte zu zahlen. Es ist schwierig, in Berlin von Musik zu leben. Im Corbo wollen wir eine offene Bühne sein, wo die Künstler für ihren Auftritt bezahlt werden.“

Auch sie kann noch nicht von der Musik und dem Theater leben – zusätzlich hat die Betriebswirtschaftlerin ein Übersetzungsbüro. „Ich möchte nicht mehr so oft ohne Gage auftreten, da fehlt mir die Anerkennung“, sagt Anomalia Chikh. Und packt ihr grünes Alter Ego – die Perücke – wieder in die Plastiktüte.

Festival de la chanson française, 20.–22. November, jeweils 20.15 Uhr im Theater Corbo, Kiefholzstrasse 1–4. Festivalkarte 30 Euro, Einzelkarte 12–15 Euro unter karten@corbo-berlin.de. Weitere Informationen: www.chanson-francaise.de

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