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Pflanzliche Dramatik. Philippe Quesne simuliert in seinem Stück „Swamp Club“ einen Abenteuerurlaub.

© Berliner Festspiele

Festival "Foreign Affairs" und andere mehr: Alles ist Performance, Performance ist alles

Woran kranken deutsche Bühnen und internationale Festivals? Vor lauter Installations-Intellektualismus geht den Theatern das verloren, was ihre Energie ausmacht - das Drama. Ein Essay.

Tiefe Dunkelheit hüllt die Zuschauer ein. Noch sind vereinzelt Gespräche zu hören, Getuschel, ein letztes Handy protestiert gegen die Stille, die sich ausbreitet wie eine am Horizont versinkende Abendsonne. Im großen Saal der Berliner Festspiele sitzen tausend Menschen in zauberischer Finsternis, jetzt ist nur noch Violinenspiel zu hören. Das geht so vielleicht zwanzig Minuten. Man konzentriert sich, fühlt sich frei. Die Geigerin Amandine Beyer scheint mit Johann Sebastian Bachs „Partita“ durch den Raum zu schweben, sie ist allein auf der Bühne, wirklich solo. Die melodischen Linien dehnen sich und ziehen sich zusammen wie ein lebendiger Organismus, die Zeit des vorangegangenen, eben erst überstandenen Tages hat sich aufgelöst. Das fühlt sich gut an, das möchte ewig weitergehen ...

Bald darauf wird das Licht eingeschaltet. Anne Teresa de Keersmaeker und Boris Charmatz betreten die Bühne. Sie sind die Choreografen und die Tänzer von „Partita 2“, des Stücks, dessen tänzerischer Teil erst jetzt beginnt. Das Duett ist von Klarheit und Strenge geprägt, doch es bleibt am Boden, verliert sich auf der Riesenbühne, eher eine Studioarbeit, aber darum geht es nicht. Denn der Beginn war so zart, so mächtig, ein grandioses Versprechen.

„Partita 2“ wurde im Mai in Brüssel uraufgeführt, eröffnete Ende Juni die „Foreign Affairs“ in Berlin, ist jetzt im Juli in Avignon zu sehen, im September bei der Ruhr-Triennale und später in Paris beim Festival d’Automne. „Partita 2“ ist ein typisches Produkt der Festivalwelt Europas, eine Multi-Koproduktion, künstlerisch eher auf der glücklichen Seite.

Viele Stücke und Performances präsentieren sich mit dieser scheinbar offenen Gestik, die sagen will: Kommt rein, macht es euch bequem. Lasst euch ein bisschen quälen, wie auch immer. Ebenso gibt es den Drang der Zuschauer, in die Stücke einzutreten, sie ein oder zwei Stunden lang zu bewohnen, im Theater einzuchecken, als wär’s ein Hostel. Die mit Johann Sebastian Bach umspielte Dunkelheit war ein solches Gehäuse, ein Aufenthaltsraum. Viele Besucher haben ihn als angenehm, ja erhebend empfunden.

Matthias Lilienthal, der langjährige Leiter des Hebbel am Ufer, hat jene Reihe entwickelt, die das Hotel-Theater schon im Titel trägt: „X Wohnungen“. Künstler nisten sich zu Hause bei Privatleuten ein, denken sich eine kleine Show aus, und die Zuschauer gehen wie bei der Schnitzeljagd von einer Adresse zur nächsten. Zuletzt hat Lilienthal damit Beirut bespielt, bespaßt, erkundet. Das Nature Theater of Oklahoma – Berlin ist voll mit seinen Plakaten – lud in den vergangenen Wochen die Hauptstadtbewohner ein, Teil eines Festivalprojekts zu werden, mitzuspielen. Auch der 13-Stunden-Marathon der New Yorker geht in diese Richtung: Man nistete sich geraume Zeit im Leben eines amerikanischen Vorstadtmädchens ein.

Immer mehr hat sich das Theater der Bildenden Kunst angenähert – die ihrerseits zum Performativen drängt. Die Schnittstelle ist das Video und die Installation. Bei den „Foreign Affairs“, die am Sonntag zu Ende gingen, wäre da vor allem der Franzose Philippe Quesne zu nennen mit seinem „Swamp Club“. Seine Akteure vegetieren in einem Kunstgarten vor sich hin, in einem Glaspavillon spielt ein Streichquartett Schubert. Das sieht interessant aus, man schaut und hört es sich eine Weile an, dann könnte man aufstehen und gehen. Denn es geschieht nichts weiter. Nur dass die Vorstellung noch ein oder zwei Stunden weiterläuft, ohne nennenswerte Veränderung im Tempo, in der Tonlage. Die Vorstellung existiert, sie entfaltet sich nicht. Nicht wenig zeitgenössisches Performance-Theater hat diesen pflanzlichen Charakter.

Auf der Documenta in Kassel, der Biennale in Venedig oder Berlin zieht man dann weiter, zur nächsten Installation, zum nächsten Video. Im Installationstheater aber sitzt der Zuschauer fest wie eh und je, selbst wenn von den Theaterleuten gelegentlich angeboten wird, dass ein Kommen und Gehen nicht nur möglich ist, sondern erwünscht.

Ein nicht zu lösender Widerspruch: Ich soll mich im Theater häuslich einrichten, fühle mich aber schnell erschöpft und gelangweilt und kann nicht wirklich ein Sandwich auspacken, eine Flasche Bier köpfen, schnell mal telefonieren oder meine Nachbarin umarmen. So weit geht die Lebenssimulation in der Regel nicht, es bleibt der Kunstvorbehalt. Wer es härter will, wird beim Performancekollektiv Signa individuell bedient. Die One-to-One-Show „Club Inferno“, kürzlich von der Volksbühne organisiert, ist der vorerst letzte Entwicklungsgrad oder die jüngste Schwundstufe dessen, was einmal Theater war und Interaktion.

Neue Phänomene sind das absolut nicht. 1999 inszenierte Frank Castorf an der Volksbühne einen langen WG-Abend nach Dostojewskis „Dämonen“. Bert Neumanns Glasbungalow sollte über Jahre prägend sein. Da hockten die famosen Schauspieler herum und schlugen die Zeit tot, mit endlosen Reden, Gequatsche, Slapstick, Videounterhaltung. Nur dass es famose Schauspieler waren. Seither sind einige Dinge passiert, oder eben nicht. Das Dramatische ist aus diesen Installationen entwichen, falls es je darin zu Hause war, und nur die Hülle ist geblieben, der Rahmen, die äußere Umgebung. Die „Dämonen“ sind domestiziert und plappern im Mainstream.

Ein anderer Vorreiter des Interdisziplinären ist William Forsythe. Bei den „Foreign Affairs“ waren zwei seiner Choreografien zu sehen, aber auch seine Videos und choreografischen Installationen. Verräterisch ist da schon die technizistische Sprache, man wähnt sich beim Facharzt für unbekannte Krankheiten: „Das choreografische Objekt ist kein Ersatz für den Körper, sondern eher ein alternativer Schauplatz, an dem das Verständnis für den möglichen Impuls und die Organisation von Handlungen angesiedelt ist.“ Die alternativen Schauplätze aber haben die Szene übernommen, sind zum Standard geworden, wobei Forsythes Tänzer in „I Don’t Believe in Outer Space“ mit ihrer Präzision und Herzenswärme das Publikum im Festspielhaus zu Beifallsstürmen hinrissen. Es gibt eine starke Sehnsucht nach emotionaler Intelligenz und intelligenter Emotion im Theater. Sie wird immer stärker.

Gleichzeitig misstrauen so viele Bühnenkünstler dem eigenen Handwerk und probieren das technisch Machbare aus. Ein Fortschritt, eine Weiterentwicklung, gewiss. Nur: Wo permanent Grenzen überschritten und Disziplinen gemischt werden, sieht am Ende fast alles gleich aus, gibt es keine Grenzen mehr, die man übertreten könnte. Und dann kann man nicht mehr zurück; wohin auch!

Wie auf dem Computer, so werden auch auf dem Theater Programme installiert, also Software, und das ist es dann schon. Was dabei entsteht, ist eher ein Modul als ein Werk; eine Anwendung, eine Bühnen-App, zu der sich jeder selbst eine Geschichte ausdenken kann, falls nötig. Zunehmend ähneln die auf der Bühne installierten Räume der virtuellen Kommunikationsarchiktektur im Internet. Aber das ist eine Illusion – und schafft Unmut. Denn weder kann ich als ImTheater-Sitzer die Ebenen wechseln, noch surfen noch mich geräuschlos verabschieden. Vorerst hat das PerformanceTheater bloß die Oberfläche des Virtuellen übernommen. Aber es gibt da und dort schon weitere Schritte hin zur technischen Aufrüstung der Zuschauer und zahlenden Mitspieler: wenn zum Beispiel die Dokumentarexperten von Rimini Protokoll ihr Publikum mit Telekommunikationsmitteln auf die Reise schicken. Auch das wieder ein Verweis hinüber zur Bildenden Kunst und den Audioguides der Museen, wo man dann auf bekannte und markante Schauspielerstimmen trifft.

Auf der Personalebene entspricht dieser Entwicklung seit geraumer Zeit die Verwandlung des Festivalleiters in den Kurator, auch das ein Begriff aus der Bildenden Kunst. Im Kunstbetrieb, der wie stets dem Theater vorauseilt, werden inzwischen Witze über Kuratorenherrlichkeit und Kuratorenblödsinn gemacht, da ist der Überdruss an Labeln und Formaten schon angekommen.

Im „Art“-Magazin schrieb Ralf Schlüter: „An Kunsthochschulen wie dem legendären Londoner Goldsmith’s College werden jedes Jahr Dutzende von Kuratoren ausgebildet. Sie sind diskursfest und mit allen Wassern zeitgenössischer Kunstpräsentation gewaschen. Sie eifern dem Vielflieger Hans Ulrich Obrist nach. Sie denken, sie hätten einen Traumberuf. Und sie müssen jetzt damit leben, das jeder dahergelaufene Smartphone-Besitzer täglich Dinge kuratiert.“

Die Schlussfolgerung fällt nicht freundlich aus: „Wer glaubt, diese Begriffsentwertung könne der Kunst nichts anhaben, sollte sich nur mal das traurige Schicksal eines anderen Begriffs vor Augen führen. Das Gesamtkunstwerk bezeichnete einmal Richard Wagners Konzept von der Synthese aller Künste. Heute wird das Attribut immer dann vergeben, wenn jemand sich besonders aufwendig kostümiert.“ Illustriert war der köstliche Artikel mit einer „kuratierten Aufschnittplatte eines unbekannten Metzgereifachbetriebs“. In der Kunst kann man wohnen, Kunst kann man essen, Kunst ist überall. Doch warum schmeckt der Aufschnitt so vegan? Wo ist der Ausgang? Werden wir zu Tode kuratiert?

Oder man schließt die Augen. Darum hat „Partita 2“ so berührt: Die Musik in der Dunkelheit öffnet Räume, verströmt Wärme. Im hektisch überproduzierenden Theaterfestivalbetrieb ist der Prolog der Violine reine Erholung.

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