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Leid teilen. „Inventar der Ohnmacht“ erzählt vom Scheitern.

© Dorothea Tuch/HAU

Festival im HAU: Pünktlich zum G7-Gipfel

Das Festival „Power of Powerlessness“ im HAU adressiert all jene, die das Gefühl haben, das andere über sie bestimmen. Zur Eröffnung gab's das Rechercheprojekt "Inventar der Ohnmacht".

Von Sandra Luzina

Der Zeitpunkt ist gut gewählt: Kurz vor dem G-7-Gipfel auf Schloss Elmau, wo sich der Club der Mächtigen trifft, versammeln sich im Hebbel-Theater die Machtlosen. „Inventar der Ohnmacht“ nennt sich das Rechercheprojekt von Edit Kaldor, mit dem das Festival „The Power of Powerlessness“ im HAU eröffnet wird. In der begleitenden Publikation schreibt HAU-Chefin Annemie Vanackere: „Der Eindruck, dass sich die Verhältnisse, unter denen wir existieren, sowohl als Individuen wie auch als Gemeinschaft, immer weniger beeinflussen lassen, ist prägend für das Lebensgefühl zu Beginn des 21. Jahrhunderts.“

Das Gefühl, dass einem die Kontrolle über das eigene Leben entgleitet, kennt wohl jeder. Nur über das Scheitern sprechen möchte keiner. Denn der Neoliberalismus suggeriert: Du bist ein Gewinner. Jeder kann es schaffen, wenn er nur will. Im Hebbel-Theater kamen auf Initiative von Edit Kaldor Dutzende von Berlinern zusammen, um über ihre Erfahrungen von Ohnmacht zu berichten und sie mit den Zuschauern zu teilen. Die aus Ungarn stammende und in Amsterdam arbeitende Theatermacherin hat ihr Projekt schon in verschiedenen europäischen Städten realisiert.

Stasi-Opfer, Asylbewerber, es sind persönliche Erzählungen

Die Protagonisten nennen zwar nicht ihren Namen, doch sie wollen reden. Es sind nicht nur die privaten Schicksalsschläge, die geschildert werden. Und es sind nicht nur die Entrechteten und Unterprivilegierten, die Dauerempörten, die sich Luft machen. Da ist die junge Deutsche, die das Erdbeben in Tokio miterlebt hat. Die Frau, die willkürlich von der Stasi inhaftiert wurde. Der Mieter, der mit kriminellen Methoden aus seiner Wohnung vertrieben werden soll. Der Sozialwissenschaftler, der Fälle von Korruption in EU-finanzierten Projekten aufdeckte und dem ein Maulkorb verpasst wurde.

Der Asylbewerber aus Kamerun, der seine Tochter nicht besuchen durfte, als sie ins Krankenhaus kam, leidet darunter, dass ihm die Hände gebunden sind – und hat Angst, als Vater zu versagen. Und dann ist da noch der politische Filmemacher, der in das Land abgeschoben werden soll, in dem er gefoltert wurde.

Eine junge Frau am Laptop bringt die subjektiven Erzählungen auf den Punkt und speist sie in ein Schaubild ein. Was schon eine Form der Übersetzung ist. Doch kein Experte analysiert hier die gesammelten Erfahrungen, keiner klaut den Betroffenen ihre Geschichte. Sie selbst werden gebeten, Verbindungen herzustellen, was sie eifrig tun. Überraschende Verknüpfungen entstehen so, auch durch die zugeordneten Hashtags: „Erstarren“ und „Geld“ waren die meistgebrauchten Begriffe, erst danach kam die „Wut“.

Der Chor der Ohnmächtigen wird weiter anschwellen im HAU

Ohnmacht ist in unserer Gesellschaft negativ konnotiert. Edit Kaldor will die Angst aufbrechen. Das gelingt ihr auch, auch wenn es sich bei „Inventar der Ohnmacht“ vor allem um ein soziales Ereignis handelt. Für die Teilnehmenden war es ein wichtiger Schritt, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden. Und für die Zuschauer wurde es zur Schule der Empathie. Der Abend liefert keine Analysen, doch die Machtstrukturen, die die Ohnmacht erzeugen, waren immerhin erahnbar. Der Chor der Ohnmächtigen wird in den nächsten Wochen noch weiter anschwellen. Bis zum 25. Juni erkunden Künstler aus unterschiedlichen Ländern das Gefühl der Machtlosigkeit. Das kann einfach die Lust am Unperfekten sein wie bei dem Choreografen Jérôme Bel, der in „Gala“ Profitänzer, Amateure und Behinderte zusammenbringt. Schöner Scheitern also. Die Arbeiten von Emke Idema, Tiago Rodrigues und Vlatka Horvat sind erstmals im HAU zu erleben. In „Balthazar“ von David Weber-Krebs spielt ein Esel die Hauptrolle. Als Held des Widerstands.

Festival "The Power of Powerlessness", bis 25. Juni im HAU1 und HAU 3. Infos:www.hebbel-am-ufer.de

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