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Nach der Katastrophe. Die Dokumentation „Project Fukushima“ von Hikaru Fujii ist auf dem Festival zu sehen.

© Promo/Hikaru Fujii

Festival "Japan Syndrome" im HAU: Gift der Ungewissheit

Das Festival „Japan Syndrome“ im Hebbel am Ufer beleuchtet ab Dienstag Kunst und Politik nach Fukushima.

Die Einschulungsfeier seiner Tochter im April war für den Regisseur Toshiki Okada ein Schock. „Der Direktor und die Gäste haben sich jeweils, bevor sie ihre Reden begonnen haben, tief vor der japanischen Flagge verbeugt.“ Ihm sei dabei, berichtet der Künstler, „ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen“. Okada macht an dieser persönlichen Episode den Rechtsruck fest, den die japanische Regierung unter Shinzo Abe in Zeiten beschleunigter Rezession vollzieht. Für ihn ein Quell „großer, großer Ängste“. Der Theatermacher – im HAU zuletzt mit seiner Arbeit „Ground and Floor“ zu sehen – zählt weitere Sorgen auf, die ihn seit der Katastrophe von Fukushima bewegen: „Die Angst, dass es nicht mehr ausreicht, innerhalb Japans umzuziehen. Die Angst, dass eine politische Lage eintritt, die mich zwingt, ins Ausland zu gehen. Und die Angst vor den Lebensmitteln, die ich zu mir nehme“.

Das Festival „Japan Syndrome“ spürt am HAU ab heute zehn Tage lang der Lage in dem so verunsicherten wie gespaltenen Land nach. Eröffnet wird es mit Okadas allegorischer Arbeit „Current Location“, die 2012 unmittelbar unter dem Eindruck des Reaktorunfalls entstanden ist. Sieben Frauen sehen sich mit vermeintlich fluchbeladenen Wolken konfrontiert, die sich über ihrem Dorf zusammenbrauen. Okada, sonst ein Meister der eigentümlich choreografierten Verrenkungen und Vermeidungstänze, zeigt hier Figuren im Zustand der totalen Erstarrung. Zurückgeworfen auf die Frage: Gehen oder bleiben?

Dass Künstler die Seismografen ihrer Gesellschaft seien, bleibt in der Regel Behauptung. „Japan Syndrome“ aber verspricht das Nachbeben spürbar zu machen, das einen Teil der Kulturschaffenden in Tokio und anderen Metropolen erfasst hat. Diejenigen, die nicht länger bereit sind, das Desaster höflich lächelnd zu überspielen. Wobei HAU-Intendantin und Festival-Kuratorin Annemie Vanackere betont: „Auch wir im Westen haben unsere Verdrängungsstrategien.“ Das Programm sei kein Fingerzeig nach Fernost, „sondern auch ein Spiegel für uns“.

Die Künstler hinterfragen den ruinösen Lifestyle

Mit Theater, Performances, Videoinstallationen, Dokumentationen (etwa „Project Fukushima“ von Hiraku Fujii), Diskussionen (über das „Phänomen Manga“ oder das „Ende der Komfortzone“) und Konzerten (wie von Anti-Akw-Aktivist Tori Kudo) wird den Erschütterungen eines Landes nachgespürt, das wie alle Industrienationen auf Konsum und Ressourcen-Fraß gebaut ist. „Unser Wegwerfverhalten hat ja unmittelbar mit der Energiepolitik zu tun“, sagt Vanackere. Die eingeladenen Künstler hinterfragen den ruinösen Lifestyle. Und kratzen an der aufrechterhaltenen Scheinnormalität des Weiter-so.

„Sind die Fukushima-Pfirsiche sicher?“, will eine Kundin im Obstladen wissen. In der Apotheke erkundigt sich ein Mann: „Was hilft am besten gegen Strahlung?“ Ein Angler erklärt Spaziergängern, es sei besser, „keinen Fisch zu essen“. In der Videoserie „Japan Syndrome“ von Tadasu Takamine werden Begegnungen aus der Post-Fukushima-Gegenwart nachgespielt. In einem leeren Raum agieren Performer in grauen Jogginganzügen. Das verfremdete Setting lässt die realen Ängste nur umso bedrohlicher hervortreten. Die Kontamination durch Ungewissheit ist in alle Lebensbereiche vorgedrungen.

Nicht minder erhellend wirkt, was der Künstler Akira Takayama in seinem „Referendum Project“ zutage fördert. Von 2011 bis 2014 hat der Künstler mehr als 1000 japanische Schüler einen Fragenkatalog in die Kamera beantworten lassen. Die Jugendlichen wirken teils wie gehirngewaschen. Wie der Junge, der auf die Frage nach seinem Traum entgegnet: „Mein Leben Japan widmen.“ Oder das Mädchen, dessen Zukunftsprognose für Fukushima lautet: „Jeder dort wird glücklich sein.“ Daneben aber erlebt man nachdenkliche, auf berührende oder beklemmende Weise zwischen Angst und Zuversicht schwankende Kids. Bemerkenswert: auf die Frage, ob es in absehbarer Zeit einen Krieg geben werde, antworten sie fast durchweg ohne zu Zögern mit Ja.

Längst nicht alle Arbeiten thematisieren die Nachwirkungen der Katastrophe direkt. In dem großartigen Stück „Zeitgeber“ von Takuya Murakawa agiert auf der Bühne mit dem Behindertenpfleger Shuzo Kudo ein Experte des Alltags. Er führt unaufgeregt seine Arbeitsabläufe vor. Ihm anvertraut ist ein vollständig gelähmter Mann, der nur durch Augenaufschlag kommunizieren kann. Wieder und wieder sagt Shuzo ihm das Alphabet vor, um das Blinzeln beim passenden Buchstaben zu registrieren und geduldig Wörter zusammenzupuzzeln. „Zeitgeber“ wirft dabei eher unterschwellig existenzielle Fragen des Miteinanders auf – wie die nach dem Wert praktizierter Solidarität.

Auch die zweite Arbeit von Toshiki Okada, „Super Premium Soft Vanilla Rich“, ist nicht so offensichtlich von Fukushima beeinflusst wie „Current Location“. Sie spielt in einem von Bach-Musik berieselten 24-Stunden-Laden, wie es sie überall in Japan gibt. Während der Nachtschicht tragen sich hier allerlei skurrile Begegnungen zu. „Für mich“, erklärt Okada, „sind diese Läden ein Symbol der Konsumgesellschaft, die unverändert fortbesteht.“

Japan Syndrome - Kunst und Politik nach Fukushima“: vom 20. bis 29. Mai im HAU, Infos: www.hebbel-am-ufer.de

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