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Alexey Zhilin im Theater der Eremitage.

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Festival Musical Olympus: Ein Gesang von tausend weißen Nächten

Auf dem Olymp sind sie noch nicht, aber auf dem Weg dorthin. Wo Russlands junge Seele auflebt: Eindrücke vom Festival Musical Olympus in St. Petersburg.

Sergej ist Taxifahrer. Die Strecke vom Petersburger Flughafen in die Innenstadt wird zum Schnellkurs in russischer Seelenkunde. „Du siehst russisch aus, du musst ein weiches Herz haben“, sagt er sofort. Und erklärt, warum der Verkehr so hektisch ist: „Unsere Winter sind lang, da haben wir nichts zu tun. Alles geschieht im kurzen Sommer. Wir trinken schnell, wir arbeiten schnell. Melancholie und Rausch gehen Hand in Hand.“ Vorbei an dem monumentalen Denkmal mit den Jahreszahlen 1941 und 1945. Hupen, Stoppen, abrupter Spurwechsel. Lenin weist immer noch mit dem Arm in die Zukunft. Hunderte von jungen Leuten liegen auf dem Rasen, reden, lachen, küssen sich. Alles in St. Petersburg ist in Bewegung.

Auch hinter dem Mariinsky Theater drehen sich die Kräne. Valerij Gergiev lebt immer im russischen Sommer. Während sich das Bolschoi in Moskau auf seinem Ruhm ausruht, tourt der Mariinsky-Chef mit seinem Ensemble um die Welt. Sein Theater ist längst Aushängeschild des ganzen Landes, und das nicht nur, weil Anna Netrebko hier ihre Karriere begonnen hat. Gerade hat das Festival „Stars of the White Nights“ eröffnet, das die schönste Jahreszeit nutzt, um massenhaft Touristen in die Stadt zu locken. Das 1860 eröffnete Gebäude platzt aus allen Nähten, außerdem muss es erneuert werden, nicht mal eine Drehbühne gibt es. Mit Mariinsky II entsteht gleich dahinter eine zweite Bühne, sie wird mehr Plätze haben als das Haupthaus. Allerdings ist der Bau um Jahre im Verzug. Wer ihn sieht, kann nicht glauben, dass er tatsächlich dieses Jahr fertig wird, wie die Bauschilder optimistisch verkünden. Viacheslav Lupachev, Chef der Entwicklungsabteilung, gibt eine sehr russische Antwort: „Gott weiß, wann wir einziehen können“, sagt er und blickt nach oben. Dafür ist 500 Meter weiter schon Mariinsky III, der neue Konzertsaal, eingeweiht, entstanden aus den Trümmern des abgebrannten Kostümfundus.

Vergangene Woche wurde hier ein zweites Festival eröffnet, das die Musikszene der Stadt seit 1996 bereichert: Musical Olympus. Auch Gergiev hat hier schon dirigiert. Das Festival will denen eine Chance geben, die irgendwann den Anna Netrebkos dieser Welt nachfolgen werden – zum Beispiel der Koreanerin Sun Young Seo. „Asiatische Singmaschinen ohne Seele? Das ist vorbei“, sagt Irina Nikitina, Gründerin von Musical Olympus, und erzählt: „Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals eine Russin Tatjanas Briefszene aus ,Eugen Onegin’ so aufrichtig, so frei, mit so viel emotionaler Hingabe in jeder Note gesungen hat wie Sun Young Seo. Alle Russen im Saal haben einfach nur dagesessen und gesagt: Wow.“

Die Sopranistin hat – wie jeder, der bei Musical Olympus auftritt – einen Wettbewerb gewonnen, den „Grand Prix Maria Callas“ in Athen. Das ist das Konzept: Junge Musiker zu präsentieren, die bereits sehr gut sind und das auch bewiesen haben, aber trotzdem keinen Veranstalter oder Agenten finden – was auch am Publikum liegt. „Es hat Angst vor unbekannten Namen“, sagt Nikitina. „Letztlich führt das aber dazu, dass wir immer die gleichen Interpretationen hören.“

Sie selbst wurde in Petersburg geboren. Als Pianistin gewann sie früher ebenfalls Wettbewerbe. Aber nachdem sie sich beim Tauchen im Roten Meer die Hand gebrochen hatte, musste sie ihre Karriere aufgeben. Mitte der neunziger Jahre gründete sie mit Unterstützung von Wladimir Putin, damals Vizebürgermeister St. Petersburgs, die Musical Olympus Foundation. Große Namen hat sie seither als Veranstalterin in die Stadt geholt: Anne-Sophie Mutter, Daniel Barenboim, András Schiff, Roberto Alagna – für viele war es der erste Auftritt in Russland.

Mit Musical Olympus will sie den Jungen helfen, die letzte Meile zur Karriere zu überbrücken. Auf dem Olymp sind sie nicht, aber auf dem Weg dorthin. Viele kommen an: Tughan Sokhiev, Nachfolger von Ingo Metzmacher als Chef des Deutschen Symphonie-Orchesters, ist bei Olympus aufgetreten, genauso wie Daishin Kashimoto, seit 2009 erster Konzertmeister der Berliner Philharmoniker. „Genau so etwas hat immer gefehlt“, sagt Marianne Granvig, Generalsekretärin der „World Federation of International Music Competitions“, der weltweit 131 Musikwettbewerbe angehören. Sie nur zu gewinnen, reicht nicht.

Mai in St. Petersburg, das bedeutet nicht nur Weiße Nächte, sondern auch weiße Tage. Gleißend, fast schmerzhaft hell ergießt sich das nordische Licht über die Zarenstadt, schärft die Kontraste, meißelt die Dächer aus dem marineblauen Himmel. Die Newa wirkt, als sei sie einen Kilometer breit, gewaltige Wassermassen schaufelt sie am Winterpalast vorbei – und am Theater der Eremitage. Swjatoslaw Richter hat diesen Saal geliebt, kein Ton geht verloren. Jetzt steht hier der Franzose Loïc Schneider, Gewinner des ARD- Musikwettbewerbs 2010, auf dem Podium und bietet im Flötenkonzert von Carl Nielsen einem ganzen Orchester Paroli. Der Japaner Masataka Goto macht sich mit festem Willen und kultivierter Wildheit an Liszts erstes Klavierkonzert, und der Amerikaner Ashu begeistert den rappelvollen Saal mit selbst arrangierter Saxophonmusik von Astor Piazolla. „Dieses Festival hat einen Namen“, sagt Ashu später. „Hier aufzutreten, hilft definitiv der Karriere.“ Um den Wirkungskreis zu erweitern, lädt Irina Nikitina diejenigen, die sie für die besten hält, auch zu Konzerten ins Ausland ein: in die New Yorker Carnegie Hall, die Tonhalle in Zürich oder den Kammermusiksaal in Berlin, wo das Festival im April zu Gast war.

Drei Uhr morgens. Der Taxifahrer sagt auf dem Weg zum Flughafen gar nichts. Auch gut. Am Himmel fließen milchige Schleier ineinander. Eigentlich schade, jetzt schon abzureisen. Die Weißen Nächte fangen gerade erst an. Der russische Sommer kann beginnen.

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