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Nicht das kapitalistische System ist pervers, sondern die Menschen sind es, die es errichtet haben. Marcin Czarnik in "Das gelobte Land".

© Bartosz Maz

Festival „Polski Express“: Polen ist überall

Das Festival „Polski Express“ im HAU hat sich hellwach und politisch gezeigt. Der deutsche Zuschauer soll sich nicht in seiner Rolle als Musterschüler der Geschichte zurücklehnen.

„Greed is good“, dieser Slogan leuchtet in vier verschiedenen Farben an der Rückwand, „Gier ist gut“. Und aus dem Off erläutert Gordon Gekko seine Evolutionstheorie, derzufolge sich aller Fortschritt dem Streben nach mehr verdanke, um jeden Preis. Willkommen in der wunderbaren Welt der Wirtschaft. „Das gelobte Land“ heißt die Inszenierung des polnischen Regisseurs Jan Klata, sie basiert auf dem gleichnamigen Roman von Wladyslaw Reymont, der darin ein Portrait der Textilindustriestadt Lodz Ende des 19. Jahrhunderts entwirft, in der kapitalistischen Morgendämmerung. Andrzej Wajda hat den Stoff 1974 verfilmt. Klata aber liest die Geschichte über Spekulanten und Fabrikanten noch einmal neu, verschränkt sie mit Oliver Stones Börsenepos „Wall Street“ und überhöht sie im grellkalten Bühnenambiente aus Plexiglastischen und Tabledance-Stangen zu einem aktuellen Unsittenbild.

Im Mittelpunkt steht der junge Karol Borowiecki (Bartosz Porczyk), der von der eigenen Baumwollfabrik träumt und sich in verhängnisvolle Liebschaften verstrickt, aber das individuelle Aufsteigerschicksal geht auf in einer wuchtigen Szenencollage. Die Frauen tragen Hurenkleidchen, die Männer Businesskostüm, jeder zockt hier jeden ab und trägt sich zu Markte. „Das gelobte Land“ formuliert indes keine billige Anklage. Nicht das kapitalistische System ist pervers, sondern die Menschen sind es, die es errichtet haben.

„Die Auseinandersetzung mit der polnischen Gegenwart im Zeichen der globalen Krise“, sagt Stefanie Wenner, die Kuratorin des Festivals „Polski Express“ am HAU, sei für die Künstler des Nachbarlandes momentan eins der prägenden Themen. In der mittlerweile dritten „Polski“-Ausgabe zeigt sie eine Generation zwischen Desillusionierung und Neuorientierung. Theatermacher, die sich international durchgesetzt haben, sind neben Newcomern vertreten, etwa der Schauspielerin und Regisseurin Barbara Wysocka. Die inszeniert eine Version von Peter Handkes Stück „Kaspar“, das über das weltverengende Korsett reflektiert, in das der Mensch durch die Erziehung zur Sprache gepresst wird. Wysocka rhythmisiert diesen Text mit Präzision, und sie hebt ihn auf eine zweite Ebene. Spätestens, als auf einem Monitor Textpassagen aus Naomi Kleins Anti-Neoliberalisierungs-Pamphlet „Die Schock-Strategie“ vorbeiziehen, wird klar, dass es auch um die Zurichtung des Individuums für den Markt geht.

Was ist die Alternative? Das Bemühen, „rauszukommen aus der Resignation des postpolitischen Zeitalters“, sieht Kuratorin Wenner in Polen stärker ausgeprägt als hierzulande. Eine Plattform für gesellschaftliche Diskurse bietet dort die linksintellektuelle Zeitschrift „Krytyka Polityczna“, deren Gründer im Austausch mit Künstlern auch über politische Einflussnahme debattieren. Die „Krytyka-Politycczna“-Macher veranstalten während der Festivals eine elektrisierende Vortragsreihe, etwa zu den Themen Wirtschaft, Kunst, Utopie. „I have seen six hundred thousand poets“, so ist die Rede überschrieben, die Igor Stokfiszewski im Stile einer video- und musikbefeuerten Lecture Performance über die polnische Kunstszene hält. Ein grandioser Text, der gegen die Konsenskultur der Boom-Jahre nach 89 polemisiert, als hunderttausende Gedichte über nichts entstanden, während man versäumte, Kapitalismus und Demokratie in ihrer Rolle als Naturzwillinge zu hinterfragen. Ein hellwaches, kraftvolles Polen präsentiert sich hier.

Willy Brandt geht auf das Mahnmal zu. Schnitt. Willy Brandt geht zurück. Und – kein Kniefall? Hannah Hofmann und Sven Lindholm waren über diesen Ausschnitt aus einem polnischen Bildarchiv überrascht. Das Künstlerduo Hofmann &Lindholm beschäftigt sich mit historischen Referenzbildern. Es unterzieht Momentaufnahmen, die Geschichte gemacht haben und das kulturelle Gedächtnis prägen, einer kritischen Überprüfung, indem es den Fotoaugenblick mit Bürgern am Ort des Geschehens nachstellt und auf die Lücken der Erzählung verweist. „Serie Deutschland“ haben die beiden ihre fortzuschreibende Videoinstallation genannt. Als sie nun für das Kniefall-Motiv nach Warschau reisten, erfuhren sie, dass dieses Bild im Nachbarland kaum bekannt ist. Und dass einige Polen der Ansicht sind, Brandt hätte nicht vor dem Ehrenmal für die Helden des Ghetto-Aufstandes knien sollen, weil so unterschlagen würde, dass es einen weiteren Aufstand in Warschau gab, 1944 durch die polnische Heimatarmee – einzigartig im besetzten Europa, aber kaum im westlichen Bewusstsein verankert.

Der Umgang mit der Vergangenheit wird auch im Zentrum von Krzysztof Warlikowskis monumentaler Arbeit „(A)pollonia“ stehen, die das Festival beschließt. Warlikowski collagiert antike Texte unter anderem mit der Geschichte der Polin Apolonia Machczynska, die unter Aufopferung des eigenen Lebens 25 jüdische Kinder vor der Gestapo versteckte. Wie in der vierstündigen Inszenierung die Beschäftigung mit dem Holocaust verhandelt wird, in welche literarischen Vergleiche das singuläre Morden gesetzt wird, das ist provozierend. Es verlangt von deutschen Zuschauern, sich nicht als Musterschüler der Geschichte zu gerieren, sondern sich einzulassen auf die polnische Perspektive.

(A)pollonia: 4. und 5. 6., 19 Uhr, Station Berlin, Luckenwalder Str. 4 - 6.

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