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"Extreme Voices", ein wildes Gastspiel aus Japan in Braunschweig.

© A.Greiner-Nepp/ Festival Theaterformen

Festival Theaterformen in Braunschweig: Tiger und Verlierer

Dschungellandschaften, versunkene Welten, wilde Videos: Das Festival Theaterformen in Braunschweig zeigt politische Stücke aus Südostasien.

„Die Tiger“, heißt es hier einmal, „wohnen in Häusern mit Dächern aus Menschenhaar und Mauern aus Menschenhaut.“ Will heißen, Raubkatzen sind in der Lage, unsere Gestalt anzunehmen, wie man es sonst nur von Werwölfen kennt. Ein starker Mythos: der majestätische Jäger als Meister der Verwandlung. Allerdings schafft das Bild auch ein gewisses Bedrohungsszenario, wenn man den malaiischen Regisseur Ho Tzu Nyen erklären hört, seine Arbeit „Ten Thousand Tigers“ sei „eine Art Séance, bei der wir spirituelle Kanäle für eine flüchtige Rückkehr des malaiischen Tigers erschaffen können“. Gleich hier? Auf der Bühne des Braunschweiger Staatstheaters? Sind die Raubkatzen schon unter uns?

„Ten Thousand Tigers“ zählt zu den stärksten Arbeiten des Festivals Theaterformen, das abwechselnd in Hannover und Braunschweig stattfindet und diesmal einen Schwerpunkt auf die Region Ost- und Südostasien legt. Ho Tzu Nyen, geboren 1976 in Singapur und bislang vor allem als Videokünstler in Erscheinung getreten, hat ein gewaltiges Triptychon errichtet, das kurze Szenen und Bilder aufleuchten lässt, als würden sich Fenster in eine versunkene Welt öffnen. Man sieht Performer als Ureinwohner in einer Dschungellandschaft. Schattentheaterspiele. Videosequenzen mit Tigern, die gegen Würgeschlangen kämpfen. Totenschädel-Tableaux und Ho-ChiMinh-Büsten.

Die raunende bis geisterhafte Erzählung aus der Raubkatzenwelt bietet dabei eben nicht exotischen Kitzel. Vielmehr verschränkt Ho Tzu Nyen sie zum einen mit der verlustreichen Kolonialgeschichte Malaysias. Zum anderen mit der Figur eines ehemaligen Chefs der Malaiischen Kommunistischen Partei, der Lai Teck hieß, unter anderem. In seiner bewegten Karriere als Doppel- und Dreifachagent gab sich der als Verräter verfolgte Schattenmann an die fünfzig Decknamen. Auch er ein Meister der Verwandlung, dem Nyen zudem die Videoinstallation „The Nameless“ gewidmet hat. Darin wird Lai Tecks Geschichte mit Szenen aus Filmen des Hongkong-Stars Tony Leung überblendet.

Die Stücke kommen aus Bangkok, Kuala Lumpur, Seoul oder Tokio

Im besten Fall können Festivals solch entlegene Arbeiten derart nahebringen, dass sie für ein westliches Publikum lesbar werden, ohne ihre Eigenständigkeit einzubüßen. Mit dem Asien-Fokus glückt das ziemlich beeindruckend. Überhaupt ist dieser Blick nach Fernost eine Bereicherung in Zeiten, in denen die Selbstbeschwörung der europäischen Krise aus allen Kanälen tönt. Sicher, Festival-Chefin Martine Dennewald holt sich auch die aktuellen Konfliktregionen mit ihren Relevanzversprechen nach Braunschweig. Der Künstler Omar Abusaada zeigt mit „Während ich wartete“ eine Collage zur politischen Seelenlage Syriens. Und die Inszenierung „Haus der Hunde“ des Ukrainers Vladyslav Troitskyi nach Texten von Sophokles verspricht ein „szenografisches Experiment über politische und geistige Unbeweglichkeit“.

Allerdings sind die grundverschiedenen Arbeiten aus den asiatischen Metropolen, von Bangkok bis Kuala Lumpur, von Seoul bis Tokio, auf ihre jeweils eigene Weise nicht weniger politisch. Dafür befreiter von Erwartungen und Projektionen. Der grandiose japanische Regisseur Toshiki Okada erzählt in „God bless Baseball“ so minimalistisch, lakonisch und unaufgeregt, wie man das von ihm kennt, von den Nachwehen einer kulturellen Missionierung: der Einführung des Baseball-Sports in Japan anno 1872 und in Korea 1905 durch die Amerikaner. Mit einem gemischten Performer-Doppel – die Japaner spielen Koreaner und umgekehrt – lässt Okada eine junge Generation ratlos aufs Feld schauen. Die Baseball-Regeln verstehen sie kaum, mit dem Sport sind vor allem Erinnerungen an betrunkene Väter vor dem Fernseher verbunden.

Mythos Wildnis. „Ten Thousand Tigers“ aus Malaysia, ebenfalls beim Festival Theaterformen in Braunschweig.
Mythos Wildnis. „Ten Thousand Tigers“ aus Malaysia, ebenfalls beim Festival Theaterformen in Braunschweig.

© The Esplanade Theatre Studio/Ken Cheong

Vorgetragen wird „God bless Baseball“ in der Okada eigenen Choreografie des absurden Leerlaufs; somnambule Gesten, Sätze, die ums Eigentliche herumtänzeln. Und wenn am Ende die Performer mit einem Schlauch die Farbe von diesem Lautsprecher abspritzen und eine Art Schirm zum Vorschein kommt, ist das ein schönes Bild für die Mischung aus Schutzbedürfnis und Paternalismus, die das Verhältnis zwischen den beiden asiatischen Ländern und den USA ausmacht. Gimme Shelter, gimme Baseball.

Nicht ganz so andockfähig ist die Inszenierung „Hipster the King“ von Thanapol Virulhakul und seinem Democrazy Theatre aus Bangkok. Der thailändische Künstler positioniert seine Performer wie Schaufensterpuppen, die Ikonen des 20. und 21. Jahrhunderts verkörpern, nur eben in trendgängiger Hipster-Gewandung: von Mao Tse-Tung bis Steve Jobs, von Frida Kahlo bis Aung San Suu Kyi. Das Publikum ist eingeladen, zwischendrin deren Platz einzunehmen, was auf viel Zuspruch stößt. Dass diese Mitmach-Installation tatsächlich um einen großen Abwesenden kreist – den thailändischen König, der seit 2014 eine Militärdiktatur duldet und Majestätsbeleidigung nicht eben für ein Kavaliersdelikt hält – ist allenfalls als Subtext erahnbar.

Eine sexy LSD-Party, so sieht "Extreme Voices" aus Japan aus

Es muss ja auch nicht alles Sinn ergeben. Keine Performance belegt das eindrucksvoller als „Extreme Voices“ der japanischen Truppe Miss Revolutionary Idol Berserker um Regisseurin Toco Nikaido. Inspiriert von einer bizarren Superfankultur in Japan, über die man wirklich nichts weiter wissen muss, hebt ein Spektakel an, das man vielleicht als LSD-Party in der Vagina von Hello Kitty beschreiben könnte. Über das Publikum, das mit Regenponchos und Ohrenstöpseln ausgestattet ist, lassen Dutzende Performer Wogen aus Wasser, Algen, Konfetti, Kirmes-Techno und Neonfarben mit solcher Exzesslust hereinbrechen, dass man dem Slogan nur zustimmen kann, der wiederholt über die Wände flimmert: „Normal theatre sucks“.

Festival Theaterformen: bis 19.6. in Braunschweig, www.theaterformen.de

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