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Michael Fassbender mit dem spanischen Filmemacher und Gewinner des "Your Film Festival" in Venedig David Victori.

© dpa

Filmfest Venedig: Mann, Frau, Geld

Über den Szenenapplaus beim 69. Filmfest Venedig, den Online-Wettbewerb „Your Film Festival“ mit Juror Michael Fassbender – und die ersten säkularen Wettbewerbsbeiträge.

Zu den rituellen Besonderheiten eines Filmfests gehört der Szenenapplaus im Kino: als Reaktion auf eine Pointe oder auf hoffnungslos unfreiwillige Komik, als Ausdruck der freudigen Überraschung, der Zustimmung, der Komplizenschaft. Wobei die kollektive Spontanreaktion sich oft nicht ohne weiteres erklären lässt. Klar, wenn in Spike Lees Michael-Jackson-Hommage „Bad 25“ der King of Pop gleich zu Beginn über die Bühne wirbelt, brandet beim Filmfest Venedig Applaus auf. Aber warum auch dann, als im Vorspann des japanischen Dorf-Psychodramas „The Millennial Rapture“ von Koji Wakamatsu das Logo von dessen Produktionsfirma erscheint, ein roter Stern mit aufgepflanztem Gewehr? Sitzen hier, in einer Vorführung der Nebenreihe Orizzonti, lauter Revoluzzer? Oder Connaisseure, die Wakamatsus Dokumentation über die „United Red Army“ (die japanische RAF) auf der Berlinale 2008 gesehen haben?

Auch im Wettbewerbsfilm aus Korea, bei Kim Ki-duks Vergeltungs- und Vergebungsdrama „Pieta“, wird schon beim Vorspann geklatscht. „Kim Ki-duks 18. Film“ steht da, diesmal lässt sich der Applaus eher als Zeichen der Erleichterung deuten. Kim Ki-duk, der Festivalliebling, ist wieder da, nach einer schweren Depression und Schaffenskrise, weil er sich schuldig fühlte an einem Unfall auf dem Set seines 16. Werks, bei dem beinahe eine Schauspielerin starb. Was seinen Fans 2011 in Cannes Nummer 17 bescherte, den autobiografischen Essayfilm „Arirang“, in dem Kim Ki-duk wie abseits jeglicher Zivilisation in einer Hütte lebt, Schneeschmelzwasser trinkt, stundenlange Monologe führt und sich mit buchstäblich allem selbst versorgt. Sogar eine Espressomaschine und eine Pistole stellt er selbst her.

Nun also Nummer 18. Wie immer in Kim Ki-duks Kinoparabeln geht es um Schuld und Sühne, darum wie der Mensch sich am Menschen versündigt. Ein Schuldeneintreiber, der etliche Gläubiger mit seinen brutalen Einschüchterungsmethoden auf immer verkrüppelt, wird von einer Frau heimgesucht, die behauptet, sie seine Mutter. Sie bittet um Verzeihung, dass sie ihn als Kind verlassen hat – Beginn einer Höllenfahrt in einer Welt ohne Gott. „Pieta“ stellt die Schuldfrage mit derart grausamer Radikalität, dass schnell klar wird, es ist die Unerbittlichkeit der Umstände, die den Menschen zum Wolf macht. Der Film, sagt Kim Ki-duk in Venedig, hat drei Hauptdarsteller: den Mann, die Frau, das Geld. Es sei unmöglich, ein humanistisches Bild von der kapitalistischen Gegenwart zu zeichnen, zumal in Korea. Vorher hatte er über die dortigen Arbeiteraufstände gesprochen, über die Selbstverbrennung eines Anführers. Er spricht freundlich, höflich, sitzt aufrecht, sieht mit seinem zum Pferdeschwanz geknoteten Haar und dem asiatischen Outfit wie ein Schwertkämpfer aus, der vor dem Pressekonferenzsaal mal eben die Waffen abgelegt hat.

 Im Internet steckt Profitpotenzial

Apropos Geld: Youtube und das Festival haben gemeinsam den Online-Kurzfilmwettbewerb „Your Film Festival“ ausgelobt, der den Paparazzi immerhin einen kurzen Venedig-Trip von Michael Fassbender und Ridley Scott bescherte. Der britische Hollywood-Star („Prometheus“) und der Regisseur waren in der Jury und sind ein Teil des Preises, denn der Gewinner, der 29-jährige Spanier David Victori, darf seinen nächsten Film gemeinsam mit den beiden realisieren. Außerdem gibt’s 500 000 Dollar: Sage noch mal einer, im Internet stecke kein Profitpotential – die analogen Löwen, Bären und Palmen auf den großen Festivals sind bekanntlich undotiert. Victoris Film heißt übrigens „Die Schuld“.

Derweil hat der vom neuen Festivaldirektor Alberto Barbera erstmals installierte Filmmarkt verhalten optimistisch Bilanz gezogen. Die Karawane zieht jetzt auf das Filmfest Toronto weiter, nach dem Motto: Die Deals werden am Lido eingefädelt und in Kanada zum Abschluss gebracht. Mal sehen, ob das Zukunft hat, denn seit jeher zeichnet sich das Filmfest Venedig eher durch die Abwesenheit von Geschäftstüchtigkeit aus. Der schmale, immer ein wenig irreal erscheinende Landstreifen zwischen Adria und Lagune animiert selbst Businessleute zur Gelassenheit, zumal im diesigen Licht dieser Tage.

Schlieren am Mittagshimmel, Wolkengebirge am Abend, Gewitter in der Nacht: Die zweite Festivalhälfte dümpelt ein wenig dahin, mit zum Glück weniger frommen und orthodoxen Filmen als zu Beginn. Olivier Assayas entwirft in „Après Mai“ mit leichter Hand ein Porträt der politisierten Jugend im Frankreich der frühen 70er Jahre. Portugal schickt das sorgfältig ausgemalte Kriegspanorama „Wellingtons Lines“ ins Rennen um die Löwen – in dem John Malkovich als General Wellington mitten im Feld das Rezept für das nach ihm benannte Filet verrät. Der japanische Kultregisseur und TV-Entertainer Takeshi Kitano setzt die Reihe seiner Yakuza-Filme mit „Outrage Beyond“ fort und spricht in der Tageszeitung „La Repubblica“ offen über die Korruption der japanischen Polizei sowie die Verlogenheit der dortigen Politik nach der Tsunami-Katastrophe. Er sei es leid, immer nur Mafia-Filme zu drehen. Als nächstes denkt er an ein „Musical im Stil von Pina Bausch, mit lauter behinderten Tänzern“. Es ist diese Art Humor, wegen der Kitano in Japan eine riesige Fangemeinde hat: Seit einem schweren Motorradunfall ist er selbst gehandicapt, sein Gesicht teilweise gelähmt.

Den ersten Szenenapplaus des Festivals hatte Ulrich Seidls strenges Sittendrama „Paradies: Glaube“ provoziert, als der muslimische Mann der frommen Protagonistin das Papstbild von der Küchenwand schubst, nachdem er in den anderen Zimmern etliche Kruzifixe mit seinem Krückstock heruntergeholt hat. Begeisterung im Saal, reine Blasphemie, dieser Applaus. Gegen Seidls Film, seine Hauptdarstellerin Maria Hofstätter und das Festival hat eine ultrakatholische italienische Vereinigung nun Anzeige erstattet, wegen Gotteslästerung. Wenn sie es ernst meint, muss sie auch das Publikum verklagen.

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