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Schauplatz Oberfranken. Die Schauspieler Elmar Wepper, Ronald Zehrfeld, Tim Bergmann, Anja Schiffel, Ulrich Noethen und Silke Bodenbender (v. l.) in Dominik Grafs Film „Das unsichtbare Mädchen“, der in der Region Hof spielt. Foto: Julia von Vietinghoff / ZDF

© Julia von Vietinghoff

Filmfestival: Buben des Bösen

Durch die Psychomangel: Thriller, Tragikomödien und andere Entdeckungen bei den Hofer Filmtagen

Es sind genau solche Augenblicke, für die man die Filmtage liebt. Andere Festivals mögen bekanntere Regisseure, größere Stars oder Großstadtflair bieten. Aber Hof betört selbst nach 45 Jahren noch mit dem Charme des Frischen und Unfertigen. Es ist 14 Uhr. Vor der Leinwand eines gut gefüllten Schachtelkinos steht der junge Berliner Regisseur Axel Ranisch: Vollbart, rosige Wagen, schwarze Brille, bestimmt zwei Zentner schwer. Neben ihm sein nicht mehr ganz so junger Hauptdarsteller Heiko Pinkowski: Vollbart, rosige Wangen, schwarze Brille, bestimmt drei Zentner schwer. Daneben: der zweite rundbauchige Hauptdarsteller Peter Trabner. Sowie eine bezaubernde alte Dame: Ruth Bickelhaupt gibt hier mit 89 Jahren ihr Spielfilmdebüt – sie ist die Großmutter des Regisseurs. Alle vier strahlen, der Applaus für ihren Film „Dicke Mädchen“ will nicht aufhören.

517,32 Euro habe sein Abschlussfilm der HFF Potsdam gekostet, sagt der Regisseur. Das sieht man auch. Die Bilder sind unscharf und verzerrt, der Ton ist miserabel. Und doch hat Ranisch eine bewegende Tragikomödie gedreht, mit Digitalkamera und improvisierten Szenen, so dass „Dicke Mädchen“ wie ein Home-Movie aussieht – was der Film in gewisser Weise auch ist. In einer Plattenbauwohnung leben die demenzkranke Edeltraut, ihr Sohn Sven und der Pfleger Daniel in einer Dreier-WG, die Protagonisten sind hin- und hergerissen zwischen Familiensinn und dem Wunsch nach Ausbruch: eine Geschichte mit Stummfilmelementen und einem Schuss zartbitterer Sozialromantik im Stile Andreas Dresens.

Um das gleiche Thema geht es dem 33-jährigen Christian Schwochow. Nach dem Erfolg von „Novemberkind“ aus dem Jahr 2008 hat er die großen Erwartungen, die seinem zweiten Spielfilm „Die Unsichtbare“ entgegengebracht wurden, wundersamerweise erfüllt. Die junge Schauspielschülerin Fine (Stine Fischer Christensen) fühlt sich von ihrer Mutter und der behinderten Schwester überfordert. An der Berliner Volksbühne bekommt sie die Chance, mit dem Theaterberserker Kasper Friedemann (Ulrich Noethen) zusammenzuarbeiten. „Ich werde dich zur Frau machen“, sagt der Regisseur, um sie durch die psychologische Mangel zu drehen. Fine zieht durchs nächtliche Berlin, um sich ihrer Rolle anzuverwandeln: Sie spielt eine freizügige Kameliendame. Bis zum Umfallen ringt sie mit ihrer neuen Identität. In ihrem Namen, Fine, klingt das Ende schon an – und dennoch lässt Schwochows intensives Filmdrama zum Schluss vieles offen.

Die Parallelen zu „Black Swan“ mögen nicht zu übersehen sein, führen aber in die falsche Richtung. Anders als Darren Aronofsky arbeitet Christian Schwochow nicht mit vordergründigen Effekten. Ihm geht es um ein psychologisches Ausloten.

Hatte man nach „Die Unsichtbare“ gedacht, Ulrich Noethen könnte die Arroganz aggressiver Männlichkeit kaum brillanter auf die Leinwand bringen, muss man diese Einschätzung nach „Das unsichtbare Mädchen“ von Dominik Graf revidieren. Mit faszinierender Bösartigkeit spielt Noethen darin einen ungemein selbstverliebten oberfränkischen Kommissar. Gemeinsam mit den Drehbuchautoren Friedrich Ani und Ina Jung greift Graf den realen Fall eines verschwundenen Mädchens auf, der vor einigen Jahren die Region um Hof erschüttert hat. Graf erzählt den Kriminalfall souverän: mit hoher Spannung, packenden Actionszenen und hervorragenden Darstellern wie Ronald Zehrfeld, Elmar Wepper und Silke Bodenbender. Obendrein nutzt Graf den Fall von Kinderprostitution an der tschechischen Grenze für eine vehemente Abrechnung. Er prangert Filz, Machtgeilheit und Vertuschung in der bayerischen Politik an – und bezeichnet den Ministerpräsidenten als „großen Vorsitzenden“. Es handelt sich, wohlgemerkt, um eine ZDF-Produktion.

Der verstörendste Beitrag der 45. Hofer Filmtage, die am Sonntag zu Ende gingen, war jedoch „Code Blue“ von Urszula Antoniak. Die polnische Autorenfilmerin begleitet den düsteren Alltag der körperlich, sozial und sexuell unterernährten Krankenschwester Marian (Bien de Moor), die sich zum Engel des Todes aufschwingt und dabei seltene Momente der Intimität erlebt. Halb in Berlin, halb in Kopenhagen gedreht und in Holland spielend, sieht „Code Blue“ aus, als hätten sich Alexander Sokurow und Lars von Trier verbündet, um „Die Klavierspielerin“ neu zu verfilmen. Antoniak zeigt den Berliner Schauspieler Lars Eidinger beim Masturbieren und konfrontiert den Zuschauer mit schwer erträglichen Szenen: Euthanasie, Todeskampf, Vergewaltigung, Sadomaso. Ein stiller, mysteriös-schöner, grausamer Film – eine Entdeckung.

Julian Hanich

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