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Kultur: Filmfestival: Der Atlantik auf dem Abendkleid

Die Bucht ist eine Riesen-Muschel. Die schönste von ganz Spanien, sagen manche.

Die Bucht ist eine Riesen-Muschel. Die schönste von ganz Spanien, sagen manche. Hier wohnen also die Terroristen. Inmitten der Muschelförmigkeit der Welt.

Morgens, kurz nach 8 Uhr. Die ETA schläft noch. Man kann die Muschelwellen entlang ins Kino laufen, von einem Ende der Bucht zum anderen. Das ist der kürzeste Festivalweg. Und dann steht man in Hohenschönhausen. Oder eben in Alaska. - "Alaska.de" heißt am der deutsche Beitrag im Wettbewerb der 48. Filmfestspiele von San Sebastian. Ein Mädchen und einen Jungen gibt es, einen zitronengelben Koffer und die "Andy-Warhol-Straße" zwischen Betongrau. Und dann diesen Mord an einem Schüler. "Alaska.de" ist eine Jugendgeschichte, der man anmerkt, wieviel sie weiß übers Jung- und Verlorensein an jenen Orten, die Menschen mit dem fremden Blick nur die "Gettos" nennen. Nicht allein die Sensibilität ihrer Wahrnehmung macht Esther Gronenborns ersten Spielfilm stark. "Alaska.de" ist - Kino, nicht Abbildung. Er hat die Farben, die Verdichtungen, Schnitte und Perspektiven - all jene vorsprachlichen Sprachen, die Geschichten anders erzählen als Worte. Gleichsam von unten herauf, aus einer stummen Mitte der Dinge. Und er hat Jana Pallaske und Frank Droese. Für beide ist es der erste Film. Dem 17jährigen wird das augenblicklich klar, als er sich bei den ersten Schritten aus dem Hotel von Gruppen sehr junger Spanierinnen umzingelt findet. Sie haben Stifte und Tagebücher. Umzingelt von Spanierinnen. Vielleicht wird Frank Droese später einmal keinen angenehmeren Gedanken kennen, aber im Augenblick hält er sie sicher für gefährlicher als die ETA. Überhaupt sind für die wirklichen Schrecken in diesen eineinhalb Wochen gar nicht die Terroristen verantwortlich, sondern beiläufige, in Kneipen gesprochene Sätze wie "Guck mal, da ist Pedro Almodovar!" oder "Dort vorn an der Tür, steht da nicht Stephen Frears?" Andererseits ist es völlig natürlich, dass Stephen Frears immerzu irgendwo rumsteht, schließlich ist er der Jury-Präsident hier.

Auch über den Muschel-Strand gibt es durchaus verschiedene Auffassungen. Der ist für Omas! dekretiert Jana Pallaske, das Mädchen mit dem gelben Koffer aus "Alaska. de" und findet, dass es ein Fehler sei, immer nur in den Festival-Palast reinzugehen, weil direkt dahinter das wahre Abenteuer anfange. "Solche Wellen!" Sie hebt die Arme zu einem Maß unüberbietbarer Größe, und plötzlich denkt man einen erstaunlichen Gedanken: Frears, Almodovor, Michail Cane, Robert de Niro, und wer sonst noch da ist oder kommt - alles klare Fälle für den Oma-Strand. Bis auf Elodie Bouchez natürlich, die in ihrem neuen Film "Too much flesh" (schöner Sog! - Regie: Jean-Marc Barr) immer wieder in einem kleinen Teich in Ilinois baden muß, während sie an Ian Vogt etwas verübt, was der Festival-Katalog in verharmlosende Worte faßt: Durch sie entdecke er "die wahre Natur der Sexualität."

Nur die Spanier lassen beide Strände kalt. Sie füllen schon die erste Nachmittagsvorstellung von "La Comunidad" (Common Wealth) bis auf den letzten Platz und mögen ihn wirklich, nicht nur, weil der Regisseur aus Bilbao stammt. "La Comunidad", der spanische Eröffnungsfilm, machte das nichtspanische Publikum seltsam ratlos. Was für ein Stilmix aus harmloser Familienkomödie, Actionfilm, Trash und warm-versöhnlicher Botschaft. Es gibt nichts Verbindenderes zwischen den Völkern als ihr Lachen. Aber auch nichts Trennenderes, das lernt man bei solchen Filmen. Arturo Ripstein, der Festivalgewinner, führt jenes Lachen schließlich an einen klaffenden Abgrund. Kein reduktionistischeres, düsteres, verstörenderes Werk als sein schwarz-weißes "La perdición de los hombres". Keine schlechte Jury-Entscheidung, gerade ihm die "Goldene Muschel" zu geben. Drei Männer, eine Schubkarre, ein paar Kakteen, irgendwo in Mexiko. Die ersten beiden schlagen den dritten tot. Ripstein zeigt einen fast unerträglichen Ingrimm des Tötens, der lachen machen kann. Das Kino zerfällt in zwei Teile: jene, die diesem Reiz nachgeben, und die anderen. Der Mann stirbt nicht gleich, einer seiner Mörder hebt die Heugabel, der andere schreit: "Halt! - Töte nie einen Mann mit seinem eigenen Werkzeug!" So geht das weiter bis zu den beiden Frauen, die sich um den Leichnam streiten, wie nur Weiber es können.

Ja, Weiber, jene Hervorbringungen der Männer. Und das ist zugleich die Schranke von "Le perdición de los hommes" fürs europäische Kino. Er gehört unserer Welt nur noch von fern an. Seine Grundlage ist eine alles durchherrschende magische Religiosität, deren alter ego grotesk kruder Materialismus ist - der Menschen formt, die das Leid des einen blind fortwälzen auf den anderen. Natürlich gibt es eine Frage, die jedes Festival, das am Meer stattfindet, irgendwann beantworten muß. Wer macht mehr Wellen? Vielleicht kam mit "Harrisons Flowers" von Elie Chouraqui, einem amerikanischen dilettantischen, überlaut-sentimentalen Bosnien-Film mit Andie MacDowell die Stunde der größten Festivalstille. Trotz all der Detonationen und Granateneinschläge. Dem Kino-Krieg gerade entkommen, stand man schon mitten im nächsten Film-Set. Zwei Männer in Batman-Anzügen an einer dunklen Straßenecke.

Die ETA, nun also doch? Oder die beiden gehören zur Michael-Caine-Leibwache, der wegen seinem Ich-spiele-einen-den-Vater-eines-Boxers-Film "Shiner" gleich seinen Auftritt haben soll. Aber da ist kein Durchkommen mehr zum Festivalpalast. Hätten wir Michael Caine gar nicht zugetraut. Nur dass alle durchgestrichene Adolf-Hitler-Plakate statt Caine-Poster tragen. "Basta Ya!" und "Contra el fascismo!" Die Pro-Caine-Kundgebung stellt sich als große Anti-ETA-Demo heraus. Entweder der Ozean spürt die revolutionäre Stimmung oder aber die wachsende Stärke des Festivals: Jetzt macht er wirklich Wellen. Der Strand verschwindet. Wer über die Brücke zum Festivalpalast will - er wurde kürzlich gebaut, um das Meer zu erschrecken und ragt, ganz aus Glas, wie der Bug eines Panzerkreuzers fast hinein - wer also über die Brücke will, riskiert den Atlantik auf dem Abendkleid. Die 19. Jahrhundert-Bürgerhäuser blicken gefaßt hinaus auf den Aufruhr. Ozeane sind gänzlich unbürgerliche Einrichtungen und passen eigentlich erst in unsere Event-Kultur. Mathieu Kassovitz gehört auch dazu, er probiert das Gegen-Event. "Les Revières Pourpres", ein Film für großes Orchester, zuschlagende Türen, Anatomiessäle und Jean Reno. Sehr Hollywood, und ein bisschen lächerlich.

Ja, man muss die Wellen-Dialektik unbedingt präzisieren. Kraft ist relativ. Man erkennt es an diesen beiden hingeträumten Frauen-am-Meer-Filmen des Franzosen Francois Ozon ("Sous le sable" mit Charlotte Rampling) und des Japaners Junij Sakamoto ("Face"). Ein paar Kräuselwellen nur, sie ziehen einen ganz weit auf ihren Ozean hinaus.

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