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 Ai Weiwei hat für seinen Film "Human Flow" Flüchtlingsbewegungen auf der ganzen Welt dokumentiert.

© Filmfestival Venedig

Filmfestival in Venedig: Alles fließt

Wasserwelten am Lido. Eine Fantasy-Liebesgeschichte mit Wassermann und Ai Weiweis Flüchtlinsgdokumentarfilm "Human Flow".

Wasser, wohin das Auge schaut. Fische schweben durchs Zimmer, die Badewanne läuft voll, der Eierkocher sprudelt. Guillermo del Toros Wettbewerbsbeitrag „The Shape of Water“ spielt mit zig Wasser-Varianten, geht es doch um eine Liebe der aquarischen Art. Die stumme Elisa (Sally Hawkins) verliebt sich in eine Amazonas-Kreatur, angekettet im Forschungszentrum, wo sie als Putzfrau arbeitet. Wir schreiben die fünfziger Jahre, hinter dem vermeintlichen Monster im US-Hochsicherheits-Tank sind auch die Russen her. Keine Chance für eine Putzfrau, aber die nutzt sie.

Ein Kalter-Kriegs-Märchen, eine Romanze im Vintage-Look, mit Fantasy-Anleihen und einer Kamera (Dan Lausten), die sich gleichsam permanent unter Wasser bewegt, so elegant gleitet sie durch die Szenerie. Del Toros Film liegt beim Publikums- und Kritikerranking bislang an der Spitze. Wegen seiner Girl-meets-merman-Poesie, die dank der Brutalität des Bad Guy (Michael Shannon als Geheimagent) nie ins Sentimentale kippt, wegen Sally Hawkins als tougher Traumwandlerin und wegen der politisierten Dialoge, die den Rassismus, die Bigotterie und die Klassengesellschaft Amerikas subtil beleuchten. Hinreißend: Octavia Spencer als schlagfertige Putz-Kollegin. Märchen entstehen in schwierigen Zeiten, sagt del Toro, „The Shape of Water“ ist sein bestes Werk seit „Pans Labyrinth“.

Das Mittelmeer - Hölle des 21. Jahrhunderts

Wasser, wohin das Auge schaut. In den Morgenstunden wurde die Lagune von einem Monstergewitter heimgesucht, tropfnass saßen die Besucher in den Frühvorstellungen. An diesem Freitag ist Ai-Weiwei-Tag am Lido, das erste Bild seiner 140-minütigen Flüchtlingsdoku „Human Flow“ (deutscher Kinostart: 16. November) zeigt das Mittelmeer, ein Boot schiebt sich durch glitzernde Wellen, eine strahlend blaue Wasserwelt, verboten schön. Die Hölle des 21. Jahrhunderts. Ein gutes Jahr hat der in Berlin lebende chinesische Konzeptkünstler mit zwei Dutzend Teams überall in der Welt gedreht, in halb Europa, im Libanon, in Bangladesch, Afghanistan, Afrika, in Idomeni, in Calais, am Flughafen Tempelhof...

„Human Flow“ will das ganz große Bild entwerfen, mit Expeditionen bis in die Subsahara, mit horrenden Zahlen, Fakten und Versen arabischer Lyriker, mit Drohnenflügen etwa über die UN-Camps an der syrischen Grenze. 65 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht, die größte Völkerwanderung seit 1945 – hilft da die Vogelperspektive? Ai Weiwei zoomt auch nahe heran, bringt sich selbst ins Bild, reicht Tee, will Namen und Herkunft wissen, filmt mit dem Smartphone. Man fragt sich, warum.

Immunisierung stellt sich ein

Wegen der Ehrlichkeit, sagt er in Venedig. Er sei hineingestolpert in das allmählich wachsende Projekt, im Lesbos-Urlaub mit seinem Sohn, als sie zufällig ein Flüchtlingsboot stranden sahen. Auch wenn der Regisseur und das halbe Dutzend Produzenten auf dem Podium die Mission der Menschlichkeit betonen, die verwegene Hoffnung, dass sich die Welt wegen der Flüchtlinge nicht immer mehr spaltet, sondern zusammenrauft: Das ethische Dilemma von uns Europäern, die wir Empathie entwickeln und wieder nach Hause fahren, thematisiert sein Film nicht. Wenigstens zeigt er, wie effizient Europa die Flüchtlingsfrage an die Außengrenzen verlagert und Zigtausende im Stich lässt, an Stacheldrahtzäunen, in Elendszelten im Schlamm. Er zeigt, als Folge des Türkei-Abkommens, die Rechtlosigkeit der dorthin zurückgeführten Heimatlosen. Mütter, die sich mitten in Europa um ein bisschen Säuglingsmilch balgen müssen. Die Hoffnungslosigkeit am Gazastreifen. Die Gefahren der Radikalisierung der ihrer Identität beraubten Jugend. Immer schneller wechselt „Human Flow“ die Schauplätze, bis sich eben die Immunisierung einstellt, die Ai Weiwei eigentlich aushebeln will. Oder entwickelt man mit solchen Bedenken nur einen Schutzmechanismus gegen den moralischen Appell, der in jeder einzelnen seiner Aufnahmen steckt?

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