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Unterwegs. Sal (Sam Riley), Marylou (Kristen Stewart) und Dean (Garret Hedlund) in Walter Salles Film „On the Road“.

© Promo

Filmfestival von Cannes: Tote tragen keine Tätowierung

Sommer der Anarchisten: Filme von Delépine/Kervern, Ken Loach, Andrew Dominik und Walter Salles in Cannes.

Der Mann hat Nerven! Schon vor der Vorführung seines Films dankt der französische Regisseur Gustave Kervern der Jury der Certain-Regard-Nebenreihe und begrüßt ausdrücklich deren Chef Tim Roth. Ein toller Schauspieler sind Sie, sagt Kervern, hab’ alle Ihre Filme gesehen und, kleiner Tip, Frankreich ist seit Francois Hollande ein echter „winner“, und außerdem weiß ich, wo Sie wohnen, und ich kenne Ihre Kinder! Und nach dem Film animiert der Mann das Publikum, den aktuellen Festivalapplausrekord von sechs Minuten zu knacken, und zieht unter allgemeinem Jubel auch noch das T-Shirt aus und wirft’s in den Saal!

Nötigung, Erpressung, Exhibitionismus wohlgenährter Männeroberkörper: Da kommt einiges zusammen, was die Würde des weltbedeutenden Filmfestivals beschädigen könnte. Vor allem aber vertreibt der Cannes-Coup Kervern endlich die verbreitete cineasto-meteorologische Düsterlaune – und erst recht der köstliche Film, den er erneut mit Benoît Delépine gedreht hat, seinem Mit-Aufmischer des französischen Kinos. Dass darin der nicht minder verrückte Benoît Poelvoorde den „weltältesten Punk mit Hund“ gibt, macht die Sache unwiderstehlich.

„Le grand soir“ eröffnet eine Serie von Kumpel- und Loser-Filmen, und er ist locker der radikalste von allen. Der Punk Benoît, der sich laut Stirntätowierung schlicht „Not“ nennt, streunt durch ein trostloses, vorstädtisches Shoppingcenter-Areal – und als seinem Nichtsnutz von Bruder (Albert Dupontel) im Matratzenladen „wegen der Krise“ gekündigt wird, gibt es bald einen Punk mehr auf den Parkplätzen, die die schöne blöde Einkaufswelt bedeuten.

Die heilsame Verwilderung des entfremdeten kleinen Angestellten: Ein solcher Plot führt leicht in die eskapistische Spießerfantasie. „Le grand soir“ allerdings hat, bei allem Witz, geradezu anarchischen Furor. Erst verpasst „Not“ der Bruderstirn ein „Dead“-Tattoo, dann verschwinden Firmenbuchstaben von den Center-Dächern, und anderntags prunkt auf den Hügeln von Irgendwo der Schriftzug „We are not dead“. Schöner Gruß an Hollywood und den dumpfdoofen Rest gleich dazu!

Wie entspannt dagegen Ken Loach, wie heiter und sogar zart: In „The Angels' Share“ – eine Redewendung für die jährliche Verdunstung von Whisky durch die Fasswände – macht er ein von Robbie (Paul Brannigan) angeführtes Quartett jugendlicher Krimineller glücklich. Statt in den nächstbesten Glasgower Knast einzufahren, eignen sie sich unter Anleitung ihres ahnungslosen Bewährungshelfers (John Henshaw) hilfreiches Fachwissen über Whisky an. Und zapfen von einem alsbald zu Höchstpreisen versteigerten Fass zwecks Weiterverkauf ein bisschen Engelsanteil ab. Wobei 25 000 Pfund pro Nase für den Start ins bessere Leben reichen sollten.

Kein Schuss fällt, niemand kommt ernsthaft zu Schaden, Cleverness und Dusel beim Fuselklau siegen. Zum Pessimisten wird der 75-jährige Ken Loach zum Glück nie und nimmer mehr, und wenn die Welt im Großen schon nicht zu retten ist, dann wenigstens für ein paar arme Schlucker im Kino. Da geht es den beiden Schluckern und Fixern schon dreckiger, die sich in Andrew Dominiks virtuos gefilmter amerikanischer Krisenballade „Killing Them Softly“ für den Überfall auf eine Hinterzimmer-Pokerrunde anheuern lassen. Nicht, weil Frankie (Scott McNairy) und Russell (Ben Mendelsohn) die Aktion vermasseln, sondern weil höhere Gewalten auf Ruhe an der Zockerfront drängen.

Brad Pitt spielt brillant den ausführenden Gesetzesarm der Glücksspielmafia, die 2008 auf ihre Weise von der großen Krise erfasst ist. Die Spesenkassen lassen nur noch Flüge per Holzklasse zu, auch am Callgirl-Budget für motivationsbedürftige Killer wird gespart. Derlei sarkastische Hinweise bietet Dominiks Drehbuch souverän beiläufig in erratisch langen, tarantinoesken Gangster-Dialogen - die zahlreichen Radio- und TV-Schnipsel aus dem ersten Obama-Wahlkampf wären gar nicht nötig gewesen.

Da ist das Amerika um 1950 viel netter und bunter. Jedenfalls, wenn Walter Salles es ins Bild setzt. In seiner Jack-Kerouac-Verfilmung „On the Road“ reisen Sal (Sam Riley) und sein Freund Dean (Garrett Hedlund) kreuz und quer durch die USA und Mexiko - und immer wieder mal ist auch Deans verführerische Gespielin Marylou (Kristen Stewart) mit von der Partie. In ihren besseren Momenten umweht diese elegant fotografierte und ausgestattete Beatnik-Hommage ein Hauch von „Jules und Jim“, meist aber tapern die Helden wie Pauschaltouristen durch etwas, das eine irgendwie wildere Jugend darstellen soll. Anarchie ist machbar, würde Gustave Kervern dazu sagen.

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