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In „The Neon Demon“ will Jessie (Elle Fanning) Topmodel in L. A. werden.

© dpa

Filmfestspiele Cannes: Die Finalrunde: Hier die Romantiker, dort die Obercoolen

Das 69. Filmfestival von Cannes geht in die letzte Runde. Ein Blick auf die Filme, bevor die Preise bekannt gegeben werden.

So ein kleiner Film eigentlich, dieser „Toni Erdmann“ der Berlinerin Maren Ade, der sich nun nicht nur in den germanozentrischen Festivalbilanzen ganz nach vorne drängt. Ein paar Personen, Vater und Tochter nur bei genauerem Hinsehen, die ein paar seltsame Dinge tun. Keinerlei auf Überwältigung zielende Bigger-than-life-Kinobilder, Boah-ey-Filmmusik erst recht nicht – und doch haben sich die aus allen Kontinenten zusammengeströmten Kritiker zu kollektivem Lobgesang zusammengefunden und wurde dieser Titel, den kaum einer so richtig auf der Rechnung hatte, binnen Tagen ratzfatz in die ganze Welt verkauft.

Ein solcher Konsens zwischen Kritikern und erst recht zwischen der Filmkritik und dem Markt ist höchst selten und nur dadurch zu erklären, dass Maren Ades Geschichte um eine seelisch erkaltete Businessfrau, die durch die gezielt oberpeinlichen Aktionen ihres Vaters aus ihrer Totalfunktionalisiertheit herausfindet, eine offenbar universelle Sehnsucht bedient. Überall übernimmt eine für den lebenslangen Arbeitsplatzkampf im Globalkapitalismus scheinbar bestens gerüstete Generation das Ruder, während die von dem seltsamen 20. Jahrhundert geprägten, im Zweifel sentimentalen Alten zurückbleiben. Der Preis für die Selbstbehauptung in diesem stählernen Konkurrenzumfeld allerdings sind Entfremdung und Einsamkeit. Und alles, was da sonst noch so herumliegt auf der Resterampe der Gefühle.

Indem „Toni Erdmann“ die Fremdheit zwischen den Generationen analysiert und – immerhin tröstlich – überwindet, besetzt er exakt die Mitte jener Welt, um die viele Filme in Cannes fast manisch kreisten. Massiv ging es in ihnen um Familie, diese letzte fragile Zuflucht vor dem Absolutheitsanspruch kapitalistischer Verwertungsmechanismen und kommunikativer Nützlichkeitserwägungen. So wurde „Toni Erdmann“ schon in den ersten Tagen zum Energiezentrum, ja, zum Herz dieses Festivals. Um im Bild zu bleiben: Filme, die sich von hier entfernten, tendierten zwangsläufig zum Erfrieren oder zum Verglühen.

Die Ware Liebe - in vielen Filmen dieses Jahrgangs illustriert

Wenn alle Beziehungen – oldschool marxistisch gesagt – nur noch durch ihren Warencharakter definiert sind, wo bleibt da die Liebe? Eine Binsensorge, gewiss, in den Filmen dieses Jahrgangs aber fand sie sich immer wieder schmerzhaft illustriert. Im brasilianischen „Aquarius“ erlebt eine alte Frau die eigene Tochter als lächelnde Hyäne, die auf Erbvorteile aus ist und die emotional totalausgemusterte Mutter nur noch als Gratis-Babysitter benutzt. Auch die Familienensembles bei den Rumänen Cristi Puiu und Cristian Mungiu sind, herumschlingernd zwischen Tradition und Korruption, hochnervöse Organismen kurz vorm Auseinanderfliegen. Und im radikalsten Familienfilm, Brillante Mendozas „Ma’Rosa“ aus Manila, geht alles, alles, alles nach Geld. Bis in aussichtsloser Lage eine winzige, umwerfende Rettungsaktion beginnt.

Hier siedelten die aufregendsten Filme von Cannes: weil es in ihnen noch um etwas geht, das zu bewahren und um das es sich zu kämpfen lohnt. Andererseits programmierten die Festivalmacher listig, als ginge es um einen Zweitbeweis für dieses wichtigste Konfliktfeld, an dessen Rändern radikale Solitäre – hier die Romantiker, dort die Obercoolen. Und auf ihre Weise traten sie zum reizvollen Fernduell an.

Allein drei Filme feiern die Liebe verblüffend bruchlos. Jim Jarmuschs Kleineleutepaar, wunderzart gespielt von Adam Driver und Golshifteh Farahani, lebt in „Paterson“ eine Beziehung ohne jedes Stäubchen eines Konflikts, und in Nicole Garcias „Mal de pierres“ steigert sich eine unglücklich verheiratete Frau (Marion Cotillard) in die absolute Hingabe hinein. Schon klar, dass solch beglückende Totalität nur im Traum oder Wahn zu haben ist. Auch Jeff Nichols’ Drama „Loving“ um ein – historisch überliefertes – schwarz-weißes Paar, das in den 1950er Jahren nur wegen seiner Ehe aus dem US-Staat Virginia verbannt wurde, inszeniert eine makellose Liebe, allerdings so leblos linear, dass der Film in Cannes wie ein Fremdkörper wirkte. Als üblich amerikanischer Selbstverständigungsstoff dürfte „Loving“ eher bei den Oscars seinen Weg machen.

"The Neon Demon" mischt das Festival nochmal ordentlich durch

Auf der anderen Seite erregten, durchaus zur glatten Außenseite von Cannes passend, zwei Modefilme besonderes Aufsehen. „Personal Shopper“ von Olivier Assayas kontrastierte die Oberfläche der Fashion-Welt noch mit dem – verblüffend oberflächlich inszenierten – Übernatürlichen, indem er seine von Kristen Stewart verkörperte Hauptfigur Geister sehen lässt. Platt kapitalismuskritisch gedeutet, geht sogar solcher Mummenschanz locker als Metapher auf die Gespensterhaftigkeit einer Gegenwart durch, in der nur noch Schönheit und Jugend zählen, und seien sie noch so industriell hergestellt.

Ganz zum wahren Charakter wird der Warencharakter jedwedes menschlichen Kontakts in Nicolas Winding Refns „The Neon Demon“, der kurz vor Schluss das Festival noch mal ordentlich aufgemischt hat. Hier trifft die 16-jährige Jessie (Elle Fanning) aus Georgia, die in Los Angeles die Top-Laufstege erobern will, auf die Eiseskälte der Model-Agenten und Superfotografen, deren Credo heißt: „Beauty isn’t everything, it is the only thing.“ Jessie ist schöner als die schaufensterpuppenhaften Konkurrentinnen mit ihren zurechtgeschnitzten Gesichtern und Körpern, und natürlich muss Natur dann weg. Spurenlos am besten, also kannibalistisch.

Tolle Kinobilder, ein paar Schocks, Filmmusik satt – auch ein großer Film? „The Neon Demon“ ist insofern bemerkenswert, als er durchweg eher in Tableaus gefrierende Beispielsituationen sucht als so etwas Altmodisches wie eine Handlung oder gar Argumentation, und bald mutiert die Leinwand in ein wie von Geisterhand vorangeblättertes überformatiges Modemagazin. Visuell starke Szenerien, schnell wechselnde Oberflächenreize: Vielleicht ist das ja das Kino unseres (weg-)klickwütigen, konzentrationsmüden 21. Jahrhunderts. Das 69. Festival von Cannes, das in seinen ersten Richtig-alte-Leute-Jahrgang geht, probiert es an wie ein Paillettenkleid, und siehe da, es steht ihm gut.

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