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Kämpft lieber mit der Bibel als der Waffe: Desmond Doss (Andrew Garfield) in Mel Gibsons neuem Kriegsdrama "Hacksaw Ridge".

© Filmfestspiele Venedig

Filmfest Venedig (4): Mit Gott im Schützengraben

Religion ist zum Dauerthema der großen Filmfestivals geworden. Das ist auch bei den Filmfestspielen in Venedig nicht anders. Drei Geschichten über den Glaube.

An jedem ersten Septembersonntag stoppt der Vaporetto-Verkehr zwischen dem Lido und der Lagunenstadt für die Regatta Storica. Während die alten Boote mit bunt kostümierter Besatzung an die große Tradition der venezianischen Seefahrt erinnern, veranstaltet die Mostra del Cinema ihren eigenen Gottesdienst. Paolo Sorrentino verkündet am Lido, dass er seitens des Vatikans nicht mit Widerstand gegen seine TV-Serie „The Young Pope“ rechnet; nicht provozieren wolle er, sondern die Widersprüche des Klerus aufzeigen. Jude Law als kettenrauchender Papst? Ratzinger rauchte auch.

Der ultrakonservative Katholik Mel Gibson lädt derweil zum Feldgottesdienst, außer Konkurrenz. In „Hacksaw Ridge“ feiert er den amerikanischen Soldaten Desmond Doss (Andrew Garfield), der ohne Waffe, aber mit der Bibel in der Hand in Okinawa kämpft. Seine Kameraden töten, er hält sich an das fünfte Gebot und rettet die Verwundeten. Eine wahre Geschichte, ein Kriegsfilm in Ballerspiele-Manier, dessen spekulative Lust am Schlachtengetümmel den Pazifismus seines Heilsbringer-Helden Lügen straft – und einen vorzeitig aus dem Kino treibt.

Kino in Zeiten der Angst, der Unruhe, des wachsenden Fundamentalismus: Die Religion ist zum Dauerthema auf den großen Filmfestivals geworden, man denke nur an den Berlinale-Eröffnungsfilm der Coen-Bruder „Hail, Caesar!“ Hier der Glaube als letzte Zuflucht, als Projektionsfläche und Hoffnungsträger, dort die Religion, die jene Hoffnung ausbeutet – ausgerechnet ein kleiner Debütfilm aus Chile findet präzise, sensible Bilder dafür. „The Blind Christ“ von Christopher Murray spielt im bettelarmen Norden des Landes, in der Papa del Tamarugal. Der Dorfjunge Michael erlebte in seiner Jugend eine Art Epiphanie, er ließ sich wie Jesus am Kreuz Nägel in die Hände schlagen, die Nachbarn verspotten ihn als selbsternannten Propheten. Als Michael hört, dass sein Freund aus Kindertagen im Bergwerk schwer verletzt wurde, macht er sich barfuß auf den Weg durch die Wüste. Auch Michael will heilen, will ein Wunder bewirken.

Michael Silva, der einzige Profi unter den Laiendarstellern, siedelt diesen Möchtegern-Christus glaubwürdig an der Grenze zwischen Naivität und Herzensklugheit an; den „Hollywood Reporter“ erinnert er wegen seines schmalen Gesichts an Christus Pantokrator aus der byzantinischen Kunst, auch Pasolini kommt einem in den Sinn. Michael legt sich mit bigotten Wallfahrern an, erzählt Geschichten, hört zu, hilft hier und da. Die Menschen, denen er begegnet, spielen sich selbst in diesem halbdokumentarischen Roadmovie, es sind fromme, elende Leute. Murray beschönigt das nicht. Gleichwohl widmet er seinen Protagonisten ein sprödes Poem, angesiedelt in sorgsam kadrierter, biblischer Landschaft. Man begreift den Ursprung des Glaubens aus dem sozialen Elend, die kaum erträgliche Diskrepanz zwischen Sehnsucht und Realität. Gott hilft nicht: ein Sprengstoff, der Revolutionen auslösen kann. „The Blind Christ“ gehört zu den bislang überraschendsten Wettbewerbsbeiträgen.

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