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Annäherung an Anderson: Dreh zur Doku

© Berlinale

Filmkritik: "Anderson": Schuld oder Sühne

Er war Musiker, Organisator, Poesieturbine - und Stasi-Spitzel. Sascha Anderson hatte über 15 Jahre seine Künstlerfreunde verpfiffen. Die Dokumentation "Anderson" nähert sich ihm und seiner Vergangenheit.

Von Gregor Dotzauer

Zwei Verse, ein Rätsel. „Vor dem Gartenhaus stehen drei Birken, die heißen / Schuld und Sühne, ich weiß welche die Liebste mir ist“, schrieb er 1997 in einer Elegie seines Gedichtbands „Herbstzerreissen“. Das war sechs Jahre, nachdem ihn Jürgen Fuchs und Wolf Biermann öffentlich als Stasi-Spitzel entlarvt hatten, und er schließlich nicht mehr leugnen konnte, was er selbst gegenüber Freunden anfangs noch nach Kräften leugnete. Er, Sascha Anderson, der Wirbelwind der Prenzlauer-Berg-Szene, der Musiker, Drucker, Organisator, Ermöglicher, die Poesieturbine, hatte sich von 1975 an unter mehreren Decknamen als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit mit Feindberührung verdingt.

Ein Rätsel ist auch er selbst, noch heute, und dass er es vor sich selbst bleiben will, ein Zug, den Annekatrin Hendel in ihrer hervorragenden Dokumentation „Anderson“ mit stiller Insistenz herausarbeitet. Die Birkenverse, die sie leitmotivisch durch den Film wandern und von unterschiedlichen Gesprächspartnern kommentieren lässt, zeigen ihn als genau jenen evasiven Charakter, als der er sich, künstlerisch verbrämt, schon vor seiner Enttarnung entwarf. Denn die multiple Persönlichkeit, als die der Subkultur-Agent dissidentische Kunst zugleich propagierte und verriet, scheint sich ihr Manipulations-, Anpassungs- und Wandlungstalent als besondere Intelligenz zugerechnet zu haben. Die innere Vervielfachung dürfte ihn heute aber auch davor retten, sich als der eine Sascha Anderson begreifen zu müssen, der dies alles zu verantworten hat.

Viele Weggefährten zeigen sich Anderson gegenüber erstaunlich milde

Annekatrin Hendel, 1964 im Osten Berlins geboren, schenkt ihrem Protagonisten nichts, sie sitzt über ihn aber auch nicht zu Gericht. Die rein juristische Verfehlung ist seit Jahren mit einer Geldstrafe abgegolten, und diejenigen, die radikal mit ihm hätten brechen müssen, staunen großenteils noch immer über die vielen Gesichter ihres Weggefährten. Sie äußern sich, wenn sie sich vor der Kamera äußern, eher mit Enttäuschung als mit Zorn – und oft mit erstaunlicher Milde. Von dem Lyriker Bert Papenfuß-Gorek, einem seiner engsten Freunde, über den er nichtsdestoweniger Berichte schrieb, ist bekannt, dass er stets zu Anderson hielt. Ein Phänomen, das über die tiefe persönliche Verbundenheit hinaus vielleicht schon für eine Art Stockholm-Syndrom der DDR.Gesellschaft spricht. Dass Anderson wiederum ohne Zögern eine Zürcher Ausstellung der Malerin Cornelia Schleime besucht, mit der ihn ein ähnliches Verhältnis von Freundschaft und Verrat verband, ist nicht weniger verwunderlich - zumal Schleime Bespitzelung zu einem Thema ihrer Kunst gemacht hat.

Es hat jeder seine eigene Geschichte mit ihm und seinem schillernden Charisma: die Kameraleute Lars Barthel und Thomas Plenert, die seine bis zur Lüge aufblühende Fantasie schon während ihres Studiums in Babelsberg kennenlernten. Die Fotografen Ingrid und Dietrich Bahß, die in Magdeburg einst eine aufmüpfige Wohnzimmer-Galerie betrieben. Der frühere „Kennzeichen D“-Journalist Holger Kulick, der ihm in seiner Schöneberger Wohnung ein erstes Westdach über dem Kopf gab. Der Bürgerrechtler und heutige Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde Roland Jahn, der ihm den Weg zu Westmedien ebnete. Oder auch seine langjährige Partnerin, die Keramikerin Wilfriede Maaß, die wohl am tiefsten in seine doch nicht völlig unempfindliche Seele sah. Wer könnte ein abschließendes Urteil darüber treffen, wer etwas von seinem Doppelleben ahnte und nichts Genaueres wissen wollte, wer von ihm profitierte und wem er offen Schaden zufügte? Ihrer aller Erinnerungen ranken sich um die Auskünfte, die Hendel ihrem Protagonisten zwischen Offenheit, schmerzhaftem Stocken und Zurückweichen entlockt.

"Anderson" ist Teil einer Trilogie - und zeigt DDR-Vergangenheit ohne falschen Furor

Der Film beobachtet ihn beim Umzug von Frankfurt am Main ins hessische Nidderau, wo Anderson, was nur im Vorübergehen erwähnt wird, mittlerweile mit der Schriftstellerin Alissa Walser, der Tochter von Martin Walser, lebt. Und der Film bringt ihn zurück in die Schönfließer Straße, in die nachgebaute Wohnküche von Ekkehard Maaß, wo sich die Bohème vom Prenzlauer Berg über Jahre traf. Ein Reenactment mit eingestreuten historischen Dokumenten. „In anderen Gesellschaften“, sagt Maaß, der seine Frau an Anderson verlor, „hätte man ihn nicht überleben lassen, da steht auf Freundesverrat der Tod.“ Doch nicht einmal er sieht in Anderson das schlechthin Böse, sondern einen komplizierten Sonderfall.

„Anderson“ ist das Mittelstück einer Trilogie, die mit einem Porträt des Schriftstellers und Stasi-IM Paul Gratzik begann, und mit einem Film über das Attentat auf die Friedenauer Diskothek La Belle 1986 enden soll. Was Annekatrin Hendel damit gelungen ist, lässt sich noch höher schätzen, wenn man auch den ersten Teil „Vaterlandsverräter“ kennt, in dem Anderson übrigens kurz auftritt. Denn biografisch lässt sich der fast 20 Jahre ältere Gratzik mit Anderson zwar kaum vergleichen. Andererseits tobt auch in ihm ein heilloses Durcheinander von Opportunismus, Eitelkeit, Karrieredenken, krimineller Energie, sozialistischer Restpassion und moralischem Bewusstsein. Dies alles ohne falschen Furor zu entwirren, ist genau die rechte Zeit.

11.2., 17 Uhr, (International), 12.2., 14.30 Uhr (Cinestar 7), 13.2., 20 Uhr, (Cinestar 7)

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