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Böser Vater, zartes Kind. Pete (Olavi Angervo) wird immer wieder Zeuge häuslicher Gewalt - in Peter Franzéns autobiografisch inspiriertem Film „Above Dark Waters“.

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Filmland Finnland: Hinter dem Rücken Gottes

Aki Kaurismäki steht für unseren Begriff vom finnischen Kino - lakonisch, schwarzhumorig und poetisch. Die neue Generation der Filmemacher inszeniert sich und die Gesellschaft schonungsloser. Ein Besuch in Helsinki.

Hübsche Idee, der Transfer mit dem Cadillac DeVille, diesem uralten gurt- und kopfstützenlosen Straßenkreuzer. Hat was von frühen Kaurismäki-Filmen, von „Ariel“ etwa, dessen Helden selbst bei Minusgraden am liebsten offen fahren. Noch liegt zwar kein Schnee in Helsinki, aber der Wind rauscht kalt ums Verdeck, während das Fahrzeug gemächlich Richtung Innenstadt schwebt. Und, was verbraucht das Sechsmeterschiff so? „No“, macht der Fahrer, was auf Deutsch „Hm“ bedeutet. „No, noin kakskyt litraa“, um die 20 Liter. In der Stadt aber dürften es schon mal „kolkyt“, 30, sein.

Der Luxusabholservice vom Flughafen gilt Regie- und Schauspielpromis, die nebenan beim Filmfestival „Rakkautta ja Anarkiaa“ (der Titel ist unmittelbar inspiriert vom Lina-Wertmüller-Film "Liebe und Anarchie") zu Gast sind. Ist aber ein Plätzchen auf der Rückbank frei, sind auch Besucher der „Finnish Film Affair“ willkommen, eines soeben zum zweiten Mal in Helsinki veranstalteten Filmmarkts, mit dem das heimische Schaffen internationalen Einkäufern nahegebracht wird. Bevor sie allerdings zur Sichtung neuester Landesproduktionen und Projekte schreiten, geht es von der Kaurismäki-Memo ins „Lost in Translation“-Klischee. Und das funktioniert zur Abwechslung total öko.

Bereits die Plastikeimerchen in den Hotelzimmern sind mülltrennmäßig dreigeteilt – wobei die wackligen Nebenbehälter für organische und anderweitige Abfälle schon mal ins große Papierkorb-Ganze stürzen. Und wie erst ist die grüne Karte zu verstehen, die man außen an die Tür hängen kann? „Ajattelen ympäristöä. Jätän siivouksen väliin“, heißt es da. „Ich denke an die Umwelt. Ich lasse das Putzen mal aus“ – zweifellos meint das den vorbildlichen zeitweiligen Verzicht auf Reinigungschemikalien. Nebenbei aber taugt die Message prima als Mitbringsel für notorische Messis.

Das Land ist anders. Härter. Weniger skurril. Modern in vielem, wie man weiß, und zugleich bleibend entlegen, eine Insel, umschlossen von Meer und Einsamkeit. In Helsinkis Zentrum zeigt es den Fremden seine schwedisch und russisch geprägte, historisch alteuropäische Seite. Schon in den Vorstädten aber, die hineingesprengt worden sind in den felsigen Grund, beginnt der Wald. Der dehnt sich nach Norden, unterbrochen nur durch Seen und Siedlungen, über 1000 Kilometer weit. Wer hier wohnt, lebt „jumalan selän takana“, heißt es in einer Redensart; hinter dem Rücken Gottes. Von dieser so alltäglichen wie tiefen Gottverlassenheit erzählen Finnlands Filme.

Peter Franzén ist nicht weit weg vom Polarkreis aufgewachsen, in Keminmaa, einer 8000-Seelen-Gemeinde, flächenmäßig fast so groß wie Berlin. Der 42-jährige Schauspieler gilt als Star in Finnland, lebte lange in Los Angeles; demnächst spielt er, in „The Gunman“ einen Söldner an der Seite von Sean Penn. Vor ein paar Jahren aber machte er eine Spielpause und fasste seine angstbesetzte und gewaltverseuchte 70er-Jahre-Kindheit in einen Roman. Nun hat er das Buch selber verfilmt: „Tumman veden päällä“ (Über dunklen Wassern) lockte binnen weniger Wochen 70 000 Finnen ins Kino – übertragen auf deutsche Bevölkerungsmaßstäbe: über eine Million.

Olavi Angervo spielt in Franzéns Regiedebüt, sensibel und anrührend, den neunjährigen Pete, der mit Mutter, Stiefvater und jüngerer Stiefschwester aufwächst. Manchmal scheint alles sonnig in der Patchwork-Kleinfamilie, aber wenn der Polizistenpapa (gespielt vom Sänger Samuli Edelmann) getrunken hat, zertrümmert er das Mobiliar und verprügelt vor den Augen der Kinder seine Frau. Einmal verfehlt ein Schuss aus der Dienstpistole sie nur knapp. „Im Film sehen Sie eine milde Version dessen, was tatsächlich geschah“, sagt Peter Franzén, der derzeit in Frankreich lebt, am Telefon. Und weist darauf hin, dass in Finnland besonders viele Kinder Zeugen oder Opfer häuslicher Gewalt werden.

Die Statistiken zeigen, wie sehr das Land damit zu kämpfen hat. Vor allem der verbreitete Alkoholismus gilt als Katalysator solcher Gewaltausbrüche. Kinderrollen wiederum sind es, mit denen die Filmemacher ihr Publikum für das Problem sensibilisieren. Auch Dome Karukoski und Aku Louhimies – prominente Nachwuchsregisseure, die aus dem Schatten Aki Kaurismäkis heraustreten – legen ihre neuesten Arbeiten entsprechend an. Ihre plakativen Sozialdramen mögen nicht, wie bei Franzén, unmittelbar aus der Perspektive von Kindern erzählt sein, doch soll der Zuschauer in erster Linie um sie bangen – als gelte es, der alltäglichen Familiengewalt wenigstens für die nächste Generation Herr zu werden.

Auch „8-Ball“ ist bereits ein Hit in Finnland und dürfte sein Teil zu dem soliden, mit den deutschen Zahlen vergleichbaren heimischen Marktanteil von 20 bis 30 Prozent beitragen. Aku Louhimies erzählt darin eine „Christiane F.“-Variante mit Kind: Als die junge Pike (Jessica Grabowsky) mit ihrem Baby aus dem Knast kommt, meldet sich bald der dämonische Kindsvater und zieht sie erneut in den Drogen- und Prostitutionssumpf. Immerhin errettet ein väterlicher Zivilermittler sie, zwar nicht eben uneigennützig, in eine bewohnbare Zukunft. Und in Dome Karukoskis „Leijonasydän“ (Herz eines Löwen) darf sich ausgerechnet der Chef eines hinterwäldlerischen Neonazi-Trupps als Beschützer eines Mulattenjungen bewähren – schließlich hat er sich gerade in dessen Mutter verliebt.

Kahlrasiert und beträchtlich tätowiert, mimt der für die Rolle arg feinsinnig wirkende Peter Franzén auch diesen ambivalenten Schurken – eine aktuelle Rollenhäufung, die Pirjo Honkasalo nur belächeln kann. „Immer dieselben 20 Schauspieler in unseren Filmen! Wie langweilig!", klagt die 66-jährige Regisseurin im Tagesspiegel-Gespräch. Dabei gäbe es doch, sofern die jungen Kollegen sich mal aus Helsinki herausbemühen wollten, viele tolle Akteure in der Provinz. Mit einer Einschränkung: „Männer im mittleren Alter, das ist schwierig. Die trinken oft zu viel.“

Die Mutter in ihrem meisterlichen Schwarz-Weiß-Film „Betoniyö“ (Betonnacht) hat Pirjo Honkasalo mit Anneli Karppinen besetzt, Ensemblemitglied am Theater im mittelfinnischen Jyväskylä. Ebenfalls erstmals in Kino-Hauptrollen sind Jari Virman und Johannes Brotherus zu sehen, die in diesem gleichzeitig kristallklaren und düsteren Kammerspiel die Söhne Ilkka und Simo spielen. Mit „Betoniyö“ kehrt die bedeutende Dokumentarfilmerin Honkasalo („The Three Rooms of Melancholia“) zur Fiktion zurück. Und bleibt sich treu, im wachen, poetischen Blick auf ihren Gegenstand.

Simo ist vierzehn, auch noch fast ein Kind. Gegängelt von der Mutter und dem weitaus älteren Halbbruder Ilkka, wächst er in einer trostlosen Plattenbauvorstadt auf. Das traumähnliche Geschehen – inszeniert nach einem 1981 erschienenen Roman von Pirkko Saisio – gipfelt in einem Mord, einer fast reflexhaften Attacke, die auch das Leben des Mörders zerstört. Wobei die Gewalt weitaus weniger drastisch ins Bild rückt als in anderen Filmen; die Kälte der Szenerie, die an Béla Tarr und Andrej Tarkowski erinnert, wirkt umso durchdringender.

Die Finnen, dieses Fünf-MillionenVolk, das am Rand der Welt auf seine Weise zusammenrückt: eine einzige dysfunktionale Familie, versehrt durch Suff, sexuelle Gewalt und Schlägereien? Mit einer Randepisode, die sie beim Interview im freundlich funktionalen Hotelfoyer hinzufügt, weist Honkasalo ins Helle. Im Film mag Ilkka ja seinem Bruder ein fatal nihilistischer Ratgeber sein, im echten Leben dagegen sind die beiden Darsteller Freunde geworden. Der Jüngere habe derzeit sehr mit der Scheidung der Eltern zu kämpfen und kümmere sich selber um seine Geschwister; in dieser Krise sei der Ältere ihm eine große Stütze. Das Prinzip Hoffungslosigkeit: So absolut gilt es, ein Glück, nur im Film.

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