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Star der jungen finnischen Literatur: Sofi Oksanen.

© Toni Härkönen, Pekka Mustonen, Bonnier

Finnland wird 2014 Buchmessen-Gastland: Flüsternde Eltern, tobende Töchter

Zwischen Widerstand und Kollaboration: Finnische Schriftstellerinnen arbeiten die Folgen des Zweiten Weltkriegs auf.

Rosa Liksom liebt es bunt. Das sieht man allein an ihrer Kleidung, die sie an diesem tristen Helsinkier Novembersonntag trägt. Mit dem Kleid hätte sie in den Sixties auf jeder Party eine gute Figur gemacht, in so vielen Farben schillert es, wie auch ihre Strumpfhose; selbst ihre hochhackigen Schnürschuhe sind noch in zwei schön von einander abgesetzten Brauntönen gehalten. Liksoms Arbeitsplatz liegt im vierten Stock eines alten, zu einem Künstlerhaus umgebauten Kabelspeichers nicht weit von Helsinkis Zentrum, und oben angekommen, gleicht Liksom sich komplett der Einrichtung ihres vollgestellten Ateliers an. Sie sammelt Spielzeug, russisches Spielzeug. Angeblich besitzt sie davon eine der größten Sammlungen der Welt, „alles Handarbeit“, wie sie sagt. Sie brauche es für ihre Installationen, aber auch zur Inspiration für ihre Bilder, primär sei sie ja Malerin.

Was Rosa Liksom aber auch ist: Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr, auch in einer deutschen Übersetzung, der Roman „Abteil Nr. 6“. Dieser erzählt die Geschichte einer sich anbahnenden Freundschaft zwischen einer jungen Frau und einem ehemaligen Knastbruder, beides Russen, die mit der transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok reisen. Angesprochen auf ihr Faible für Russland erzählt die 55 Jahre alte Künstlerin, dass sie in den frühen achtziger Jahren in Moskau studiert habe, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften.

Geboren wurde Liksom in Ylitornio, einer kleinen Gemeinde in Lappland an der Grenze zu Schweden, und es dauert nicht lange, bis sie auf ein beherrschendes Thema der zeitgenössischen finnischen Literatur zu sprechen kommt: die deutsche Okkupation Lapplands im Zweiten Weltkrieg sowie der zerstörerische Rückzug der Deutschen, nachdem Finnland mit Russland ein Friedensabkommen geschlossen und sich darin zum Kampf gegen Deutschland verpflichtet hatte. „Ich habe so viele Geschichten von meinen Eltern und meinen Verwandten gehört, doch in Finnland haben wir gerade erst begonnen, darüber zu schreiben. Da sind so viele Dinge passiert.“

Auch Liksom plant einen Roman über diese Zeit; außerdem habe sie sich darüber schon in Kurzgeschichten ausgelassen: „Diese Kriegszeit steckt in mir drin, sie ist immer ein kleiner Teil meiner Arbeit gewesen. Mein Vater, seine Brüder, die Brüder meiner Mutter, sie alle waren an der Front, zunächst mit den Deutschen gegen die Russen, später gegen die Deutschen. Ich bin mit den Geschichten über all das aufgewachsen und täglich konfrontiert worden.“ Um zu erklären, wie viel Stoff in diesem Kriegsthema steckt, erzählt sie, dass beispielsweise in Rovaniemi, der größten Stadt Lapplands mit damals gerade einmal 5000 Einwohnern, 20 000 deutsche Soldaten stationiert gewesen seien: „In einer Stadt, in der während des Krieges fast nur Frauen lebten. Die finnischen Männer waren alle an der Front, und Sie können sich vorstellen, was da passiert ist!“

Deutsche Soldaten, finnische Frauen, die Kinder, die aus diesen Verbindungen hervorgingen, überhaupt der Lapplandkrieg: Gleich vier Romane sind in Finnland 2011 und 2012 darüber herausgekommen, geschrieben von Katja Kettu, Puala Havaste, Antti Tuuri und Heidi Köngäs Zumindest Katja Kettus Roman wird nächstes Jahr auf Deutsch erscheinen, zum Gastlandauftritt Finnlands auf der Frankfurter Buchmesse, unter dem Titel „Die Hebamme“. Er handelt von der ungewöhnlichen, erotisch enorm aufgeladenen Liebesgeschichte zwischen einem in Lappland stationierten SS-Soldaten, der beim Massaker im ukrainischen Babyn Jar mitbeteiligt war und als Täter nachhaltig traumatisiert wurde, und einer finnischen Hebamme, der magische Kräfte zugeschrieben werden.

Katja Kettu spricht bei einer Begegnung im Restaurant von Helsinkis Hauptbahnhof davon, dass es viele Jahre ein Tabu gewesen sei, über solche Beziehungen zu sprechen, geschweige darüber zu schreiben. In ihrer Kindheit, Kettu wurde 1978 in Rovaniemi geboren, hätte es Andeutungen gegeben, Flüstereien, nicht mehr. Die Korrespondenz ihrer Großmutter brachte sie auf die Idee ihres Romans und lieferte ihr das Vorbild für dessen weibliche Hauptfigur: „Meine Großmutter war so positiv, trotz des Krieges, sie schrieb so leidenschaftlich über all das. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, sich dieses Themas anzunehmen, weil die Zeitzeugen aussterben.“

Die Drei von der Vergangenheitsfront II: Rosa Liksom.
Die Drei von der Vergangenheitsfront II: Rosa Liksom.

© Toni Härkönen, Pekka Mustonen, Bonnier

Auch Kettus deutsche Übersetzerin Angela Plöger ist bei dem Treffen dabei. Plöger berichtet von den Schwierigkeiten und Herausforderungen beim Übersetzen von Kettus in einer eigenwilligen, expressionistischen Sprache verfasstem Roman. Aber sie gerät auch ins Schwärmen, insbesondere über dessen Hauptfigur, die sei „von einer so exzeptionellen Stärke, Sinnlichkeit und Urkraft. Der Kontrast zu dem SS-Offizier ist frappant.“ Wenig anfangen kann Plöger mit der These, dass die NS-Zeit womöglich auch eine gewisse Faszination auf eine nachwachsenden finnische Generation ausübt; dass die Beschäftigung damit nicht nur der historischen Aufarbeitung dient, sondern Aufmerksamkeit produziert und auf dem Buchmarkt Funken schlägt.

So wie es bei Sofi Oksanen der Fall war, dem Star der finnischen Literaturszene, der im Moment auch international erfolgreichsten Schriftstellerin des Landes. Die lilablauschwarze Dreadlock-Haarpracht und die Vorliebe für schwarze Klamotten sind Oksanens sorgfältig kultiviertes Markenzeichen. Aber auch sonst ist die 1977 in Mittelfinnland als Tochter einer estnischen Ingenieurin und eines finnischen Elektrikers geborene Schriftstellerin eine professionelle Unternehmerin: Seit einiger Zeit betreibt sie einen Verlag, in dem die Taschenbuchausgaben ihrer Romane herauskommen, demnächst jedoch auch die erstmalige finnische Übersetzung von Alexander Solschenyzins „Archipel Gulag“; sie arbeitet mit einem Möbelladen zusammen und hat mit diesem eigene Buchregale designt; und ihr jüngster 2012 veröffentlichter, 2014 auf Deutsch erscheinender Roman „Kun kyyhkyset katosivat“ hatte in Finnland eine Startauflage von 100 000.

Die Drei von der Vergangenheitsfront III: Katja Kettu.
Die Drei von der Vergangenheitsfront III: Katja Kettu.

© Toni Härkönen, Pekka Mustonen, Bonnier

Das mutet bei einer Einwohnerzahl von knapp über fünf Millionen exorbitant an, scheint aber angesichts einer viertel Million verkaufter Exemplare des Vorgängers „Fegefeuer“ höchst realistisch zu sein. „Fegefeuer“, in Deutschland 2010 erschienen, erzählt die Geschichte einer alten Frau in Estland, die durch das plötzliche Auftauchen ihrer Großnichte aus Wladiwostok mit der estnischdeutsch-russichen Vergangenheit und ihrer eigenen Rolle darin konfrontiert wird. Oksanens Roman enthält viel historischen Stoff, in seinem Mittelpunkt stehen starke und widersprüchliche Frauenfiguren (die Männer sind etwas holzschnittartig); zudem streift er eine Gegenwart, in der sexuelle Gewalt und Zwangsprostitution gang und gäbe sind.

Obwohl sich auch ihr neuer Roman um die Besetzung Estlands erst durch deutsche, später durch russische Truppen während des Zweiten Weltkriegs dreht, um Widerstand und Kollaboration, wehrt sich Sofi Oksanen vehement, pimär als Verfasserin historischer Romane zu gelten. Am Rande einer Party des mit ihr verbundenen Möbelladens in Helsinkis Pracht- und Vorzeigestraße Esplanadi legt sie dar, dass man mittels historischer Stoffe sehr gut auch drängende aktuelle Themen transportieren könne; die Vergangenheit Estlands sei ihr durch die vielen Besuche bei ihrer Großmutter in Estland zwar unwahrscheinlich nahe, aber Menschen und insbesondere kleinere Völker, die sich zwischen Opportunismus und Widerstand bewegen, wären doch letzten Endes eine universelle Angelegenheit. Oksanen versteht sich deshalb weniger als finnische denn als europäische Autorin. Warum sich aber gerade jetzt eine finnische Autorengeneration so intensiv mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzt, darauf hat auch sie keine plausible Antwort. Vielleicht ist das alles wirklich, wie Rosa Liksom in ihrem Atelier nicht müde wird zu betonen, einfach nur „very, very interesting“.

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