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Kultur: Finten um den Finderlohn

„Vorsicht Sehnsucht“ – Alain Resnais’ zartes Gespinst um eine Altersleidenschaft

Es gibt Frauen, die fahren extra nach Paris, um Schuhe zu kaufen. Alain Resnais, bald 90, war schon immer ein äußerst aufmerksamer Beobachter der Weiblichkeit. Natürlich ist er nicht der Erste, der einer Frau beim Einkaufen zuschaut, aber so wie dieser große alte Mann des französischen Kinos hat es doch lange keiner mehr getan.

Knallrot, giftgrün die Objekte der Begierde, überhaupt scheint die Welt ihre Farben zu verändern und wird dabei so schwebeleicht. Es ist ein schöner Anfang, es könnte der Anfang für vieles sein. Nur eins scheint sicher: Dass die Schwebende bald auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen wird. Und richtig, da kommt einer, der schwebt noch schneller als sie, ein Skater, er greift nach ihrer Tasche. Und was ist der Mensch in der modernen Welt ohne seine Brieftasche?

Mitsamt aller Mitgliedsausweise und Rabattmarken gehört sie doch zum Intimsten, was wir besitzen. Genau mit diesem Bewusstsein wird Georges, ein Pensionär, das Fundstück aufheben und alles betrachten, was darin ist. Ein fremdes Leben in seiner Hand – was für ein nicht unerotischer Gedanke. Und ihren Namen weiß er auch schon: Marguerite.

Dieser George ist in einem Alter, in dem uns die Gesellschaft keine Arbeit mehr zumutet und der Tod noch nicht an uns denken mag: im idealen Lebensabschnitt also, das zu studieren, wofür wir uns wirklich interessieren. Der Rentner ist der zu sich selbst befreite Mensch, und als solcher vergleicht Georges die beiden Fotos im Fundstück sehr genau. Auf ihrem Personalausweis ist Marguerite ernst, auf ihrem Pilotenschein – hat er je eine Fliegerin gekannt? – lächelt sie. Welches Gesicht ist das wahre?

Alain Resnais hat einen bemerkenswerten Film über das Wesen des Findens unter besonderer Berücksichtigung seiner erotischen Aspekte gedreht. Nebenbei huldigt er einer Einsicht, die die Nouvelle Vague immer wieder variiert hat: Die Nebensachen des Lebens sind die Hauptsachen, die kleinen Wege lauter verkannte Hauptstraßen. So wie der Beginn von „Vorsicht Sehnsucht“ – im Original „Les herbes folles“ (die verrückten Gräser, das Unkraut) – der Einsicht ins Offenkundigste gewidmet ist: Nur wer völlig abgestumpft ist, bringt ein gefundenes Portemonnaie sofort zur nächsten Polizeidienststelle.

Irgendwann meldet sich jedoch selbst in Georges, den André Dussollier mit Charme und Chuzpe spielt, der Allerweltsmensch, und er gibt die Börse ab. Und nichts scheint plausibler, als dass auch die Polizei begreift, was ein Ausweis wirklich ist: dass man kaum etwas Sinnlicheres in der Hand halten kann. Ein Bild, dazu alle Daten. Man muss sie nur noch miteinander verbinden.

Eine Aufgabe für Menschen mit Fantasie, für Künstler also. Wie der alte Georges ist auch der alte Resnais ein Mensch mit großer Phantasie. Man geht alle Ab- und Irrwege gern mit ihm, wohl ahnend, dass es 99 Möglichkeiten gibt, dieses hoch zarte Sujet – nach einem Roman von Christian Gailly – zu verderben und nur eine des Gelingens. Natürlich braucht es auch Grobheit dazu: Reichlich spät kommt Marguerite, gespielt von Resnais’ Frau Sabine Azéma, die Idee, den Finder anzurufen und sich zu bedanken. Hat er als ihr Mitwisser nicht das Recht, auf einer persönlichen Begegnung zu bestehen? Muss er sich mit Abwimmeleien zufriedengeben?

Schön, wie Regie und Schauspieler sich mit immer neuen Finten gegenseitig tragen. Zum Beispiel angesichts des Risikos, das auch Finder eingehen: Bald meldet sich die Polizei ihrerseits bei George. Die widerspenstige Ausweisinhaberin hatte sie auf die zerstochenen Reifen ihres Wagens aufmerksam gemacht.

Nur: Warum wird, was eben noch feinstes Gewebe war, dann doch plump und schwül? Wer wissen will, wie die nicht ganz geschlossene Hose eines älteren Herrn ein Flugzeug zum Absturz bringen kann, darf ruhig bis zum Ende bleiben.

Babylon Mitte, Cinemaxx, Kurbel,

Passage; OmU im Cinema Paris

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