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Kultur: Fischhaare und Fangspuren

Nico Bleutges musikalisches Meisterstück „verdecktes gelände“ verwandelt Naturgeschichte in Poesie / Von Michael Braun.

In seinem berühmten Vortrag über „Probleme der Lyrik“ verglich Gottfried Benn den Zustand poetischer Wahrnehmungsempfindlichkeit einst mit den Sinnesorganen von winzigen Urtierchen. Er verwies dabei auf das Tastorgan von Kleinstlebewesen im Wasser, die „von Flimmerhaaren bedeckt“ seien. Auch den Dichter muss man sich in diesem Sinne als einen von Flimmerhaaren bedeckten Menschen vorstellen, der die Bewusstseinsreize wie auch die lyrischen Substantive und Chiffren ertastet und in eine zarte Textur einwebt.

Dieses Konzept einer Dichtung der subtilen Wahrnehmungsnuance, die sich mit den einzelnen Aggregatzuständen von Naturstoffen beschäftigt, mit Wind- und Wellenbewegungen, mit den kleinsten Veränderungen einer Landschaft, hat der 1972 in München geborene und heute in Berlin lebende Lyriker Nico Bleutge in mittlerweile drei Gedichtbänden immer weiter verfeinert. Sein jüngster Band „verdecktes gelände“ ist nun ein Meisterstück einer in Dichtung transformierten Naturgeschichte. Hier sind es die inneren Verschiebungen und Schwingungen der Materie selbst, die Metamorphosen von Naturphänomenen, die zum zentralen Gegenstand der Poesie werden.

Im ersten Kapitel geht es dabei um Expeditionen durch Dunkelzonen und verzweigte Gänge, deren Beschaffenheit sich durch Geräusche, Klänge, Luftströmungen, Bio-Organismen und unterschiedliche Stadien von Feuchtigkeit beständig verändert. Die folgenden Kapitel präsentieren Erkundungen von „rohflächen“ und „schotterschneisen“ an der Grenze von Stadtlandschaft und Peripherie oder Feineinstellungen auf „Meeresbeweglichkeit“ und fluide Prozesse unterschiedlichster Art.

In den fünf Abteilungen des Bandes kreist die Suchbewegung des Dichters immer wieder um visuelle und akustische Bewusstseinsreize, die er so filigran verknüpft, dass die einzelnen Dinge eine überraschende Kontur erhalten. Es geht hier nicht um eine „realistische“ Naturdichtung, sondern um eine hochmusikalische Sprachkunst, die sich an der Faszination bestimmter Naturvokabeln entzündet, die dann zu einem polyphonen Gewebe verflochten werden.

„fischhaare finden“ etwa sammelt maritime Flora und Fauna und komponiert aus Wasserbewegungen und den „Schwingungen“ der einzelnen Realien ein komplexes Naturbild, das aber nicht als fixiertes Stillleben, sondern als bewegliches Vexierbild gelesen werden will: „fischhaare finden, heller und trockener als gras / und fangspuren finden, kalk und gewebefalten / an schalen mit licht leitenden elementen, immer / im drehen, immer im streifen von bruchkanten, quer / zu den wellen, und den windungen folgen, fluchtnahen / körnern, drehen und finden von flurgras, kanälen / an stellen für wärme oder feuchte in lang schon /verlassenen schalen ...“

Ganz dicht an den Konturen der Dinge entlang entfalten diese Gedichte eine detailversessene Phänomenologie der Naturstoffe, wobei die einzelnen Teile stets in eine Kreis- oder Drehbewegung versetzt werden. Im titelgebenden Zyklus „verdecktes gelände“ schließlich sind Gehen und Wahrnehmen unmittelbar verbunden. Der Dichter durchstreift eine winterliche Landschaft nahe Berlin, folgt den „feinen verwehungen“ im Gelände und legt die darin verborgenen Geschichtszeichen frei: „bilder von brandschutt und platten/ von zündungsnestern, von sprengkammern / unter den böden, luftbilder, -karten, laminiert/ von hallen, maschinen, von taktstrassen/ in körniger auflösung.“

Kritiker von Bleutges Lyrik haben gelegentlich eingewandt, dass sich der Dichter nur als Kollektor sinnlicher Eindrücke versteht, seine Subjektivität aber in auffälliger Weise hinter den beschriebenen Dingen versteckt. Richtig daran ist die Beobachtung, dass Bleutge mit dieser artifiziellen Form von Natur- und Wahrnehmungslyrik einen Endpunkt erreicht hat, an dem keine größere Detailgenauigkeit mehr erreicht werden kann. Bei einem Dichter von diesem Niveau darf man aber sicher sein, dass er sich demnächst neu erfinden wird.

Nico Bleutge:

verdecktes gelände.

Gedichte. C.H. Beck Verlag, München 2013. 76 Seiten, 14,95 €.

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