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Kultur: Flucht in den Osten

Peter Köpf erzählt, wie es den Nato-Deserteuren in der DDR erging.

Schwer hatte es die Stasi bei der Suche nach geeigneten offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern, die das Häuflein Überläufer aus Nato-Armeen in der DDR überwachen sollten. Stasi-Offizier Karl Schenk, dem diese Aufgabe 1954 übertragen wurde, beklagte sich bitter über dilettantische Mitarbeiter und unfähige Spitzel. Er hätte sich, zitiert Peter Köpf die Akten der Staatssicherheit, intelligentere Zuträger gewünscht als solche, die sich verpflichteten, „gegen Spione, Agenten und Saboteure zusammenzuarbeiten“ und „Schädlinge liquitieren“ zu wollen. Aber lupenreines Personal für diese schmutzige Arbeit zu finden war wirklich nicht leicht, denn der Umgang mit Ausländern aus dem Westen erforderte nicht nur einschlägige Sprachkenntnisse, sondern auch Einfühlung in das Milieu desperater Deserteure, deren Fluchtmotive oft zweifelhafter und nur selten politischer Natur waren – auch wenn sie das in der DDR glauben machen wollten und sollten.

Nicht wenige von ihnen waren aus Furcht vor Strafe wegen Gewalttaten, Saufereien und anderen Disziplinarvergehen übergelaufen, andere, zumeist Familienväter, hatten Freundinnen aus dem Halbweltmilieu mitgebracht, um in der DDR ein neues Leben zu beginnen. Zwar gab es auch echte Pazifisten, Korea-Kriegsdienstverweigerer und schwarze Soldaten, die vor Rassendiskriminierung geflohen waren, aber insgesamt war es eine ziemlich gemischte Gesellschaft, die sich in den Wohnheimen für Überläufer in Müggelhorst bei Berlin und später in Bautzen und Briesen bei Frankfurt/Oder zusammenfand. Nur etwa die Hälfte der 120 Deserteure, die Stasi-Offizier Schenk während dreier Jahre in Bautzen unterbrachte, integrierte sich auf Dauer in der DDR. Andere wurden depressiv, aggressiv oder alkoholkrank, wenn sie das nicht schon vorher gewesen waren. Nicht wenige wurden straffällig, viele versuchten die DDR auf legalen und illegalen Wegen wieder zu verlassen.

Vor allem dieser problematischen Hälfte der Überläufer widmen sich die Fallstudien Peter Köpfs, vermutlich weil die Problemfälle in den Akten der Staatssicherheit am gründlichsten dokumentiert sind. Den spektakulärsten benennt der Buchtitel „Wo ist Lieutenant Adkins?“ Die Antwort hebt sich Köpf bis zum Schluss auf, um es spannend zu machen und dann einzugestehen: Auch er weiß es nicht. Der US-amerikanische Deserteur William C. Adkins, der im Januar 1954 in Österreich im Rang eines Oberleutnants der Militärpolizei zu den Sowjets übertrat, durchlief nach seiner Übergabe an die DDR eine ziemlich abenteuerliche und spektakuläre Karriere als Stasi- Spitzel und Rundfunkpropagandist mit mehrfachem Namenswechsel (Jack Forster, John Reed), bis er sich 1963 nach West-Berlin absetzte und dort spurlos verschwand – ob nur aus den Akten der Stasi oder ganz aus der Welt der Geheimdienste, bleibt offen. Nach Erkenntnissen der Stasi hatte er zuletzt Kontakt zur amerikanischen Botschaft. Seine Ex-Frau in den USA wollte bei einer Befragung 1982 sogar wissen, „dass ihr geschiedener Mann als Agent für das CIC gearbeitet hat“.

Dafür könnte sprechen, dass Adkins alias John Reed – den Namen borgte er sich von seinem Landsmann, dem Verfasser der berühmten Reportage über die Russische Revolution „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ – einer der wenigen Intellektuellen unter den Überläufern war und bei den Sowjets gezielt versucht hatte, in den russischen Militärgeheimdienst übernommen zu werden. Dort könne er „am nützlichsten sein“, hatte er argumentiert, andernfalls wolle er „in die Vietnamesische Volksarmee eintreten“. Vielleicht war sein Übereifer den Sowjets verdächtig, die ihn gegen seinen ausdrücklichen Willen der DDR übergaben. Dass er dort andere Deserteure kaltblütig und skrupellos für die Stasi bespitzelte, spricht nicht gegen einen CIC-Hintergrund und bahnte ihm den Aufstieg über Studium und Reportertätigkeit in den Auslandsdienst des DDR-Rundfunks und zur Defa. In dem Propagandafilm „For Eyes Only“ über Kriegsvorbereitungen der USA gegen die DDR spielt er eine Nebenrolle als schurkischer Arzt, der den Helden mit dem Lügendetektor testet. Ob er selbst einem solchen Test standgehalten hätte?

Immerhin war er dreist genug, wegen hoher Schulden sogar mit einer Beschwerde beim „Sekretariat des Genossen Walter Ulbricht“ zu drohen, wenn ihm nicht finanziell geholfen werde. Da hatte er bereits 1000 DDR-Mark als Prämie für seine Spitzeldienste kassiert. Sein Opfer William Smallwood, der im Suff über die Grenze getaumelt war und lieber für ein paar Jahre in ein amerikanisches Gefängnis zurückgekehrt als lebenslänglich in der DDR geblieben wäre, landete seinetwegen drei Jahre im DDR-Knast. Wie er schmiedeten viele vom Leben in der DDR enttäuschte Überläufer Fluchtpläne, manchmal mit und manchmal ohne Erfolg. Nicht einmal die Furcht vor dem Militärgericht konnte sie in Bautzen zurückhalten. Da die Grenze nach West-Berlin bis 1961 noch offen war, ließen sich Fluchten relativ leicht bewerkstelligen, wenn man nur schnell genug – etwa mithilfe von bestochenen Taxifahrern – von Bautzen nach Berlin gelangte. Als Fluchthelfer und Schleuser betätigte sich ein Mitbewohner des Hauses der „Internationalen Solidarität“ in Bautzen, dreimal mit Erfolg. Beim vierten Mal wurde er gefasst und zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Peter Köpf lässt die Schicksale eines guten Dutzend desertierter Nato-Soldaten in der DDR Revue passieren, allerdings als Kriminalrevue, die den Leser über deren wahre Identität – ob gutgläubige Grenzgänger, gerissene Agenten oder entgleiste Kriminelle – lange im Unklaren lässt, bis er die Fäden auf 200 Seiten nach und nach entwirrt. Das liest sich spannend, aber auch absichtsvoll verwirrend wie ein Thriller und lässt im Fall Adkins doch die klassische Frage des Kriminalromans offen: Wer war der Täter? Hannes Schwenger

Peter Köpf: Wo ist Lieutenant Adkins? Das Schicksal desertierter Nato-Soldaten in der DDR. Ch. Links Verlag, Berlin 2013. 226 Seiten, 19,90 Euro.

Hannes Schwenger

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