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Kultur: Fluchtpunkt Istanbul

Nach dem Anschlag: Die Metropole am Bosporus ist seit Jahrhunderten ein Zentrum der jüdischen Diaspora. Eine Erinnerung

Die Nachricht vom Attentat auf die Neve-Schalom-Synagoge ruft mir einen warmen Septembertag in Istanbul in Erinnerung. Ich hatte an jenem Tag beschlossen, die Spuren jüdischen Lebens in dem Viertel aufzusuchen, das sich an den Turm von Galata kauert, nördlich des goldenen Horns. Ich erinnere mich an den Verkäufer von Sesamkringeln, der sich langsam durch die Straßen bewegt und laut seine Ware anpreist; ich denke an das kleine Straßencafé am Fuß des Turms aus dem 14. Jahrhundert, an die Pergola aus Weinreben und die in der Nachmittagssonne schläfrig gewordenen Gäste. Und ich erinnere mich an das freundliche Gesicht des sephardischen Kaufmanns, mit dem ich einige Worte in einer improvisierten Sprache wechselte, ein Gemisch aus italienisch und judeo-spanisch.

Neve Schalom ist eine der größten Synagogen Istanbuls, sie liegt im Herzen des Viertels. Hier gab es schon im 15. Jahrhundert eine Synagoge, auch wenn das aktuelle Gebäude auf die Fünfzigerjahre zurückgeht. Von außen kündet ziemlich wenig von einem jüdischen Bethaus, nur die Davidsterne aus geschmiedetem Eisen zieren die niedrige Fassade, die sich in die Häuserfront einfügt.

Seit Jahren herrschen hier strenge Sicherheitsvorkehrungen. Die anderen Synagogen des Viertels sind meist von einer Mauer umgeben und von Kameras bewacht; hier sieht sich der Besucher gleich mehreren schweren Toren gegenüber, aufmerksamen Wachleuten und einer strengen Passkontrolle. Denn bereits 1986 wurde auf die Neve-Schalom-Synagoge das bis dahin schlimmste antijüdische Attentat in der türkischen Geschichte verübt. An einem Septembermorgen drang ein Kommando der palästinensischen Abu-Nidal-Gruppe in den Betsaal ein und tötete 22 Menschen. Seitdem ist die Ecke neben dem Thoraschrein von der Explosion geschwärzt, eingefasst in einen Metallrahmen: die Spur eines Blitzes, der sich in die Wand eingraviert hat.

Dieses Mal ist es den Attentätern nicht gelungen, in die Synagoge einzudringen. Stattdessen haben sie ihre tödliche Fracht vor der Tür abgeladen, Wachen und Passanten in Mitleidenschaft gezogen. Ja selbst die Seele der Stadt ist von ihrer Zerstörungswut erfasst.

Das Galata-Viertel war einst von Juden dicht bewohnt. Ein Laden in der Nähe des italienischen Bethauses, nur wenige hundert Meter von Neve Schalom entfernt, diente als koschere Schlachterei. Vor einigen Jahren gab es in der Nähe auch eine koschere Bäckerei. Aber die wohlhabenden Bürger, die traditionell die Straßen bevölkerten, sind in moderne Viertel gezogen, weit entfernt vom Zentrum. Und dennoch stirbt das Viertel nicht aus. Kaufmännischer Wohlstand prägt bis heute die alten Häuser, die jahrhundertelang zu einem der blühendsten Handelszentren des Mittelmeers gehörten: dem Ort, an dem die Osmanen – und vor ihnen die Byzantiner – den Fremden erlaubten, Handel zu treiben. Der massige Zylinder des Turms, 1348 von den Genuesern erbaut, kündet von der Anziehungskraft für die unterschiedlichsten Völker: für Griechen, Armenier, Italiener, Franzosen und nicht zuletzt viele Juden, die einzigen, die seit der Spätantike ununterbrochen in der Stadt präsent sind.

In der Nähe von Neve Schalom hat das türkische Oberrabbinat seinen Sitz, das dem Netz jüdischer Institutionen in der Stadt vorsteht. Von den 25 000 Juden, die in der Türkei leben, sind über 22 000 in Istanbul ansässig. Fast jedes Viertel verfügt über mindestens eine Synagoge oder eine jüdische Schule; vier jüdische Friedhöfe sind noch in Gebrauch. Im Unterschied zu anderen historischen jüdischen Metropolen, in denen die alten Wohnviertel deutlich zu erkennen sind, gibt es in Istanbul seit jeher ein vielfältiges Judentum, das der Geografie dieser eurasischen Metropole entspricht, der Stadt an der Grenze zweier Kontinente.

Juden lebten hier schon im Mittelalter. Aber erst die Einwanderer aus der iberischen Halbinsel nach der Vertreibung 1492 machten die Stadt zum Zentrum der sephardischen Diaspora; eine Art autonomer Mikrokosmos, in dem über Jahrhunderte ein anpassungsfähiges und unternehmungslustiges Judentum Wurzeln schlug. Zwar waren die Beziehungen zur Regierung des alten Byzanz wegen der christlichen Intoleranz schwierig, dennoch begann mit der türkischen Eroberung von 1453 eine Periode friedlicher Koexistenz. Die osmanischen Sultane sahen in den Juden wertvolle Bürger, die die neue Hauptstadt wirtschaftlich vorantreiben können. Zwar betrieben sie teilweise eine Politik der Zwangsumsiedlungen aus dem Reichsgebiet nach Konstantinopel. Aber nicht selten entschieden sich jüdische Gemeinden aus freien Stücken für Istanbul als neues Zentrum des Welthandels. Als dann die Könige von Spanien und Portugal die Juden aus ihren Ländereien vertrieben, war Sultan Bajasid II bereit, sie aufzunehmen und das finanzielle und technische Knowhow der Flüchtlinge zum eigenen Vorteil zu nutzen. Im vierten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts lebten hier 8000 jüdische Familien. Als Ärzte und Gewürzhändler, als Militärtechniker und Diplomaten spielten die Juden von Istanbul in der Elite bei Hofe eine fundamentale kulturelle und politische Vermittlungsrolle.

Aber es kamen nicht nur sephardische Exilierte, sondern auch viele Juden aus dem übrigen Europa, die Schutz suchten vor den Religionskriegen und den Verfolgungen der Gegenreformation. Es ist heute wahrscheinlich schwer zu verstehen: Aber die muslimische Toleranz im 16. Jahrhundert war der Inbegriff einer offenen Gesellschaft. Wer aus den Ghettos Italiens kam oder wie die Marranen, die zwangskonvertierten spanischen und portugiesischen Juden, zum jüdischen Glauben zurückkehren wollte, dem galt die osmanische Hauptstadt als Fluchtpunkt.

Neve Schalom bedeutet soviel wie „Aue“ oder „Heimstatt des Friedens“. Es ist ein antiker Name, der auf einen Vers des Propheten Jesaja zurückgeht: „Siedeln wird mein Volk auf einer Aue des Friedens, in sicheren Wohnungen, in sorglosen Ruhestätten.“ Und so war es dort, in Istanbul, für Jahrhunderte. Ein friedliches Zusammenleben – und ein wertvolles Erbe, auch für die moderne Türkei.

Der Autor lehrt Judaistik an der Freien Universität Berlin. In Italien ist gerade sein Buch „Lontano da Gerusalemme“ (Einaudi, Turin) erschienen, ein Reportageband über jüdische Gemeinden in der ganzen Welt. – Aus dem Italienischen von Clemens Wergin

Giulio Busi

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