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Kultur: Fluchtpunkt

Sibylle Tiedemanns Bruder- suche „Estland mon amour“

Der Mann aus Neu-Ulm wollte die Zeit verlangsamen. Nur wohin er zu Fuß gelangen konnte, wollte er gehen und kam, auf der Flucht vor Alltag und Karrierezwang, bis auf die estnische Halbinsel Kessmo. Im Sommer 1996 fand man ihn tot in der Garage eines Freundes. Die Urne mit der Asche reiste im Flugzeug, das er immer vermieden hatte, vier Tage um die Erde, bis sie in der Heimat anlangte.

Sibylle Tiedemann, die Schwester des Toten, konnte nicht glauben, dass ihr Bruder Klaus an einem Herzinfarkt gestorben war. Sie fuhr nach Estland und setzte die Obduktion durch. Im Gehirn war eine Störung aufgetreten, die von einem Sturz herrühren konnte. Oder von der Metallstange, die in der Nähe des Toten lag? Und wer hat die Barschaft von Klaus T., 2500 DM, entwendet? Die Polizei ist der Sache nicht nachgegangen, und die Schwester beließ es bei einigen Rückfragen bei Freunden und Nachbarn. In der Nacht, nach der man ihn tot fand, war Klaus zu einem Fest gegangen. Man muss nicht Kriminolologe sein, um die Fäden zu sehen, die zur Aufklärung hätten führen können.

Doch die Regisseurin („Kinderland ist abgebrannt“) will ihren Frieden mit dem Toten machen. Der lyrisch gestimmte Dokumentarfilm, eine arte-Produktion, malt immer wieder die Stimmung der Filmemacherin aus: die Verstörung, die das Videotagebuch von 1996 festhält, und die Begegnung mit Menschen und Landschaften bei der zweiten Reise im Jahr 2003. Am Schluss steht ein fröhliches Totenmahl, bei dem Bekannte und Freunde das Andenken des Bruders feiern.

Der Titel „Estland mon amour“ führt auf eine falsche Fährte. Vom modernen Estland erfährt der Zuschauer nichts, weil der Tote dafür offenbar kein Interesse aufbrachte. Den Deutschen, der sich mit seinem Vater überworfen hatte, zog es an den Ursprungsort der baltischen Familie Tiedemann. So verbergen die Szenen eine zutiefst deutsche Geschichte, deren Untiefen die Regisseurin, wohl aus familiärer Rücksicht, nicht ausloten will. Warum floh der Industriedesigner Klaus T. vor der deutschen Gegenwart und Vergangenheit in einen Krähwinkel? Ein solcher, fast schon wieder exemplarischer Fall sollte aufregen, statt bei lyrischen Bildern verdrängt zu werden.

Nur in den Hackeschen Höfen

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