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Kultur: Fluchttür vernagelt, Löschgerät alt - wenn die Natur ihr hässliches Gesicht erhebt, droht in der Metropole das Chaos

Leben und Sterben in Los Angeles verläuft in ziemlich festen Bahnen. Das weiß man.

Leben und Sterben in Los Angeles verläuft in ziemlich festen Bahnen. Das weiß man. Wenn das traumhafte Hollywood funkelt, schimmert South Central im Schein der Flammen - entfacht von Bewohnern, denen ein Haufen Asche immer noch lieber ist als die Perspektivelosigkeit des Ghettos: Traum und Alptraum, aber kein Erwachen. Eine Stadt der Extreme? Oder Welthauptstadt der Normalität? 6000 Quadratkilometer Reihenhaussiedlungen im Dienst der Gleichförmigkeit. Zu den gern verbreiteten Horrorszenarien bemerkte ein Journalist des New York Magazins trocken: "L.A. starb schon seit so oft und auf so vielen unterschiedlichen Wegen, dass seine offensichtlich unvermeidbare Zerstörung zu einer Quelle des städtischen Stolzes wurde." Mit "Ökologie der Angst" legt Davis eine Rechnung vor, nach der niemand verlangt hat - zumindest nicht in L.A. Ob Erdbeben, Hurrikanes, Überschwemmungen, Killerbienen oder wild gewordene Pumas, wenn das Unglück kommt, wird es mit doppelter Gewalt zuschlagen, weil Fluchttüren vernagelt wurden, der Löschschlauch verrottet ist und an erdbebensichernden Maßnahmen gespart wurde.

Davis ist ein Architekt katastrophaler Umbrüche und der heimliche Held des vorliegenden Buches ist der 1996 verstorbene US-amerikanische Philosoph Thomas S. Kuhn. Kuhn skizzierte Anfang der sechziger Jahre eine Geschichtstheorie meist katastrophisch verlaufender Epochenwechsel. Solche den Lauf der Geschichte vor neue Ausgangslagen stellende "Paradigmenwechsel" setzte er gegen die Theorie eines kontinuierlichen Fortschritts. Mit Kuhn im Ärmel mischt Davis nun die Karten neu und fragt, ob die in L.A. existierenden Sicherheitsvorkehrungen für naturbedingte Notlagen auf dem sandigen Boden jener fortschrittsgläubigen Theorien gebaut sein könnten. Ein Beispiel von vielen: Im Januar 1994 schossen Erdbebenwellen mit einer Geschwindigkeit von 19 000 Kilometer auf das San Vernando Valley zu. Sie zerstörten mehrere Häuser, es gab 72 Tote. Gleichwohl konnte man von Glück im Unglück sprechen, denn der Hauptimpuls des Bebens entlud sich in einem dünn besiedelten Gebiet. Es waren die Details des Vorfalls, die das Beben zum Verkünder eines Paradigmenwechsels Kuhnscher Ausmaße machten. So lag das Epizentrum nicht nur außerhalb der bis dahin bekannten tektonischen Bruchlinien, es offenbarte auch, dass man das Erdbebenrisiko für Los Angeles völlig neu einschätzen mußte. Denn, so Davis "die Erdbebenhäufigkeit in der Region Los Angeles war während der zurückliegenden Jahrtausende enorm viel höher als in den vergangenen 200 Jahren, seit denen Meßdaten vorliegen". Man hatte eine außergewöhnliche Ruhephase zum Maß genommen und mit diesem Beben dämmerte, dass hier lediglich die Ruhe vor dem Sturm herrschte.

Neun Jahre sind vergangen, seit Davis in den USA sein längst als Klassiker geltendes Buch "City of Quartz" vorlegte. L.A. wurde damals als Flickenteppich unterschiedlichster ethnischer Gruppen und sozialer Schichten analysiert. Die 15-Millionen-Stadt galt ihm weniger als gemeinschaftsstiftender urbaner Raum, denn als Kampfplatz um sich verknappende ökonomische Ressourcen. Auch wenn Davis über Naturphänomene spricht, im Hintergrund schimmert stets die in Arm und Reich gespaltene US-Gesellschaft durch. Seine wissenschaftliche Karriere begann der langjährige Lastwagenfahrer als Außenseiter. Der interdisziplinäre Blick ist nicht bloß erkenntnistheoretisches Experiment. Vielmehr versucht er politisch-ökonomische und eben ökologische Zusammenhänge bloßzulegen und so die Perspektive einer alternativen Politik zu zeichnen. Wenn es sein Ziel ist, die Enge des universitären Elfenbeinturms zu überwinden und gesellschaftliche Diskussionen anzustoßen, dann dürfte ihm dies mit "Ökologie der Angst" erneut gelingen. Spannend, oft reportagehaft beschreibt er, wie Gemeininteressen zur Sache des Marktgeschehens werden, wie Bodenspekulanten an die Stelle verantwortlicher Planung treten. Den auf diesem Wege eröffneten Diskurs zu ignorieren kann tödlich sein, wie nicht zuletzt die Folgen mangelnder Vorkehrungen im Zusammenhang der türkischen Erdbebenkatastrophe bewiesen.

Als Verkünder eines Armageddon will Davis jedoch nicht verstanden werden. L.A.s Mischung aus natürlichen Gefahren und sozialem Konfliktpotential beschreibt für ihn letztlich das ewig aufgeschobene Ende der Stadt. Davis: "Viel wahrscheinlicher ist, dass die Stadt - erschüttert von einer Serie immer häufiger eintretender Katastrophen aller Art - dahinvegetieren wird. Wobei eine stetig wachsende Zahl von Menschen auf der Strecke bleibt und das Elend unaufhörlich wächst. Gleichzeitig werden lebenswichtige Teile der High-Tech- und Touristikindustrie dorthin abwandern, wo es sicherer ist, und die eher wohlhabenden Einwohner werden sich zu Hunderttausenden dem Exodus anschließen." Den großen Knall wird es nicht geben - aber ein Wimmern wird anschwellen.Mike Davis: "Ökologie der Angst : Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe", Verlag Antje Kunstmann, 1999, 524 Seiten, 44,80 Mark.

Nils Michaelis

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