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Flüchtlinge versuchen, den Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn zu überwinden.

© picture alliance / dpa

Flüchtlinge in Europa: Wer Zäune zieht, hat schon verloren

Europa darf nicht in Kleinstaaterei zurückfallen. Wer sich an die DDR erinnert, darf heute weder Brandstifter, noch stiller Beobachter sein. Zum grundsätzlichen Willkommen für Flüchtlinge gibt es keine Alternative. Ein Plädoyer.

Die Illustrierte „stern“ titelt in ihrer neuesten Ausgabe: „Der Ansturm“. Bei flüchtigem Erfassen der Zeile bleibt das Wort „Sturm“. Ein Unwetter also?

Im Innern des Heftes mit der Titelbildstrecke über die Flüchtlinge, die in die Mitte Europas drängen, prangt auf einer Doppelseite die Zeile: „DIE MENSCHEN KOMMEN ÜBER MEERE UND BERGE, AUFZUHALTEN SIND SIE NICHT“. Eine Naturkatastrophe, die den Abschottungsreflex individuellen Katastrophenschutzes mobilisieren soll? Oder doch eher eine menschengemachte?

Die bewusst gewählte Schlagzeile der Kiosk-Illustrierten: eine Sprachgrenzverletzung. Sie mag tiefer gehen, bleibt aber letztlich linguistisch konnotiert. Am selben Donnerstag nun wird gemeldet, dass in Österreich 71 Flüchtlinge tot in einem Kühllaster auf dem Pannenstreifen einer Autobahn gefunden worden sind.

Nicht etwa in den exterritorialen Zonen des Mittelmeers, fernab der Küsten, sondern mitten in Europa, in unserer Mitte. Schlepper haben mit ihnen ihren Gewinn gemacht und sie dann über die äußerste menschliche Grenze getrieben, die zwischen Leben und Tod.

Jeden Tag werden in diesen Wochen Grenzen aufgebaut, überschritten, eingerissen, neu hochgezogen, ideologische wie reale. Europa, der Kontinent der Freiheit und der zivilisatorischen Werte, der Kontinent, der soeben noch alle Binnengrenzen abschaffte, türmt neue Barrieren nach außen und zwischen seinen Staaten – nur um sich derer zu erwehren, die aus dem Süden und Osten herandrängen, auf der Flucht vor Armut und Diktaturen und Krieg. Verliert er auch deshalb immer mehr an Autorität und Kontur, weil er nicht mehr für ein gemeinsames Menschenbild steht?

Ungarn, Grenzland der Hoffnung und Freiheit

Der neue Grenzzaun in Ungarn: ein Symbol nationaler Kraftmeierei, politisch sinnlos, weil die Flüchtlinge durch das selber verarmte Land nur weiter nach Westen fliehen. Aber eine reale Hürde bedeutet er für die Menschen, er testet, wie der individuelle verletzliche Körper auf Stacheldraht reagiert, eine am Boden ausgerollte mechanische Mini-Drohne in einem Mini-Krieg.

Und schon will das Regime von Viktor Orbán, noch immer als EU-Mitglied Teil einer sich auf Menschenrechte verständigenden Völkerfamilie, Soldaten an diese neu bewehrte Grenze schicken. Mit welchem – in Kauf genommenen oder bloß öffentlich unerklärten – Ziel? Auch diese Grenzen sind dünn, wer wüsste das besser als die Deutschen aus der jüngsten Geschichte, die Grenzen zwischen Abschreckung und Schießbefehl.

Wie sich die Bilder ähneln: Auf diesem vom August 1989 nutzen DDR-Flüchtlinge ein paneuropäisches Picknick, um von Ungarn nach Österreich zu gelangen - in den Westen.
Wie sich die Bilder ähneln: Auf diesem vom August 1989 nutzen DDR-Flüchtlinge ein paneuropäisches Picknick, um von Ungarn nach Österreich zu gelangen - in den Westen.

© picture-alliance/ dpa

Und Flüchtlinge, die unter dem neuen Zaun an der serbisch-ungarischen Staatsgrenze hindurchkriechen - auch auf dem Weg in jene freiere Welt, die man noch immer den Westen nennt.
Und Flüchtlinge, die unter dem neuen Zaun an der serbisch-ungarischen Staatsgrenze hindurchkriechen - auch auf dem Weg in jene freiere Welt, die man noch immer den Westen nennt.

© AFP

Kaum 25 Jahre sind vergangen, als Ungarn ein Symbol der Hoffnung und der Freiheit war, das Land, das jene Grenze, die man seltsam poetisch den Eisernen Vorhang nannte, als Erstes durchschnitt, für andere und für sich selbst. Plötzlich waren seine Grenzen offen für die Flüchtlinge, die aus der auch ökonomisch armen Diktatur namens DDR nach Westen flohen, bevor das realkommunistische System zusammenbrach. Frage nicht nur nach Heidenau: Wie gut bewahrt man sich das Gedächtnis erlittener Fluchtlust- und Flüchtlingserfahrung, wenn es an die eigene neu gewonnene Komfortzone geht – und sei es nur, den alltäglichen Anblick anderer Flüchtlinge zu ertragen?

Europa muss zur Vernunft kommen

Ungarns Weg von damals bis in dieses 2015: So plakativ er sein mag und so viele nationale Besonderheiten ihn prägen – er drängt sich auf als Metapher für den Zustand des ganzen Kontinents. Nur dass seine Natodrahtgrenze sichtbarer ist als andere Grenzen, staatliche wie individuelle; er funktioniert auch, einstweilig, als Symbol für die vielen bürokratischen Stoppzeichen, mit denen die Länder des desorientierten Kontinents ihre Abwehr zu straffen suchen. Wie lange gilt Schengen noch, der durch Abschaffung nationaler Grenzen gewonnene individuelle Sauerstoff, die mühevoll gewonnene Freiheit unseres großen, keineswegs unüberwindlich heterogenen Kulturraums?

Europa darf nicht zurückfallen in die Kleinstaaterei, aus der es sich in Jahrzehnten herausgearbeitet hat. Und es sollte politisch reif genug sein, nicht erst über das Chaos zu neuer Vernunft zu kommen, wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben soeben in der „Zeit“ skizziert – allerdings am Beispiel der Wirtschaftsdauerkrise Griechenlands. Wer in Deutschland das wochenlange euphorische Willkommen für die DDR-Flüchtlinge nicht vergessen hat, darf kein Brandstifter und auch kein stiller Teilhaber neuer Brandschatzer sein. Und wer in Europa die eigene Freizügigkeit schätzt und verteidigt, darf sich nicht grundsätzlich kalt verschließen gegenüber jenen, die an ihr teilzuhaben suchen.

Es gibt dieses neue Willkommen, tausendfach. Es könnte, sollte hunderttausendfach sein. Man muss dafür nur über die eigenen Grenzen gehen, über jene des eigenen gewohnten und schon aus eben jener Gewohnheit eng gewordenen Horizonts. Spätestens auf mittlere Sicht ist dieser Aufbruch ohnehin „alternativlos“, wie die Kanzlerin sagen würde.

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