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Foreign Affairs der Berliner Festspiele: Hurra, wir werden jünger!

Das neue Berliner Festival „Foreign Affairs“ sucht nach dem Kolonialismus – und zeigt ein furioses Tanzstück von Boris Charmatz. Neue Publikumsschichten werden erschlossen.

Vier Frauen und vier Männer in einer plüschigen Sofalandschaft. Man trägt hellrosa Saunatücher, vermeidet direkten Blickkontakt und sitzt dabei wie auf Kohlen. Denn natürlich ist den Studentinnen, Kindergärtnerinnen und leitenden Angestellten aus Daisuke Miuras japanischem Gastspiel „Love’s Whirlpool“ klar, dass sie sich allerspätestens jetzt nach oben in den Playroom bewegen sollten, wenn sich ihre Investition in diese Nacht noch amortisieren soll. Zumindest die Männer haben 20 000 Yen Eintritt für die Sexparty bezahlt, auf der es bis fünf Uhr morgens im Prinzip nur ein Tabu gibt: den Austausch von Telefonnummern.

Einen „Clash der Visionen“ hat Frie Leysen, die Leiterin des neuen Festivals „Foreign Affairs“ bei den Berliner Festwochen versprochen. Und dieser Zusammenprall, so viel kann man nach einer Woche bereits sagen, funktioniert hervorragend. Geräuschvoller als zwischen Federico Leóns Auftaktproduktion „Las Multitudes“ aus Buenos Aires, in der sich lauter homogene Frauen- und Männergruppen zu warmherzigen Straßentänzen trafen, und Daisuke Miuras Tokioter Sexparty-Drama könnte es jedenfalls kaum knallen. Hier die Utopie einer (Dorf-)Gesellschaft, die mit Taschenlampen, neckischen Volksweisen und einem durch und durch weißbärtigen Ältestenrat der weltumspannenden Liebe auf die Sprünge helfen will; dort die Kälte einer Zweckgemeinschaft, die sich verpflichtungsfrei Orgasmen kauft und lauthals das Objekt reklamiert, falls es schlechten Intimgeruch verströmt.

Zwischen Anfang zwanzig und Mitte dreißig sind die Leistungsgesellschafter in „Love’s Whirlpool“. Auch in den Zuschauerräumen der „Foreign Affairs“, die Frie Leysen über das Wilmersdorfer Festspielhaus hinaus bis in die Sophiensäle und das Ballhaus Ost ausgedehnt hat, ist der Altersdurchschnitt merklich gesunken. Bei den Sitzgelegenheiten in den hippen Dependancen, die auf uncoole Rückenlehnen gern verzichten, haben Menschen mit intakten Bandscheiben schließlich auch einen deutlichen Feldvorteil. Kurzum: Leysens gezielte Unterwanderung der Berliner Festspiele mit Formaten und Stammzuschauern aus der freien Szene ist gelungen, der umgekehrte Publikumstransfer scheint hingegen noch ausbaufähig.

Das wichtigste Verdienst der ersten „Foreign-Affairs“-Woche ist aber ohnehin ein anderes. Das streitbare Festival hat uns freundlicherweise mal wieder daran erinnert, dass Kunst nicht nur ein abnickbarer Selbstgänger, sondern auch ein hitziger Streitgegenstand sein kann. Der unfreiwillige Festival-Meister der Polarisation heißt Brett Bailey. Rekurrierend auf die Völkerschauen, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA zweifelhafter Popularität erfreuten, setzte der weiße südafrikanische Künstler in seiner Installation „Exhibit B“ im Kleinen Wasserspeicher in Prenzlauer Berg dunkelhäutige Schauspieler den Blicken des Publikums aus: Eine mit nacktem Oberkörper ans Kolonialherrenbett gefesselte Sklavin, ein in Vitrinen stehendes Paar mit Lendenschurzen oder eine Frau hinter Stacheldraht in einem Konzentrationslager in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, die die Köpfe getöteter Mithäftlinge mit Glasscherben ausschaben muss.

Mit didaktischer Lehrstück-Absicht zwingt Baileys Installation den Zuschauern praktisch den kolonialen Blick auf und behauptet – indem er auch gegenwärtige Asylbewerber unter die „Exponate“ mischt – zumindest implizit eine ungebrochene Kontinuität. Die Wogen schlugen nicht nur auf einem ganztägigen Symposium mit Theoretikern und Aktivisten hoch, das die „Auswärtigen Angelegenheiten“ in bester HAU-Manier begleitend zum thematischen Afrika-Schwerpunkt anboten.

Ist solch ein Ansatz überhaupt noch auf der Höhe des Diskurses und eines heutigen Zuschauers? Werden Erniedrigungs- und Ausgrenzungspraktiken in derartigen Re-Inszenierungen nicht ganz zwangsläufig wiederholt; allen gegenteiligen Absichten zum Trotz? Berlin sei die erste Station, soll sich Brett Bailey auf dem Podium öffentlich gewundert haben, in der seine weltweit tourende Installation derart kritisch aufgenommen wurde.

Zwar ist „Exhibit B“ im Rahmen des Festivals bereits abgespielt. Aber für Diskussionsstoff dürfte auch Baileys zweiter Beitrag „Medeia“ auf der Seitenbühne des Festspielhauses sorgen. Die Produktion aus Kapstadt erzählt den antiken Medea-Mythos als eine Art Seifenoper, die koloniale Hierarchien und Stereotypen befragt. Zwischen Radiohead und Coldplay liefern sich der Westler Jason und die Afrikanerin Medea ein Beziehungsdrama mit den bekannten grauenvollen Konsequenzen: Für hiesige Rezeptionsgewohnheiten in der Tat eine Einladung auf eine sehr „fremde Affäre“, ganz so, wie es der Festivalleiterin vorschwebt.

Aus einem ganz anderen Blickwinkel nähern sich die nordeuropäischen Gewinner des Impulse-Festivals von 2011 dem Sujet. „We love Africa and Africa loves us“ von Institutet und Nya Rampen knüpft direkt an die damalige Sieger-Produktion „Conte d’amour“ an und bespiegelt Afrika unter einem Masken-, Kunstblut-, Obsessions- und Stimmenverzerrer-Aufkommen, das Erinnerungen an Vegard Vinges und Ida Müllers „Borkman“-Parforceritt im Prater weckt, als Projektionsfläche einer weißen Kernfamilie. Nach zweieinhalb Stunden ist klar, dass im Prinzip nichts geklärt und längst nicht alles gesagt ist. Christine Wahl

„We love Africa ...“ ist noch einmal am heutigen Sonntag sowie vom 10. bis 13. Oktober, „Medeia“ noch heute und morgen zu sehen.

Zuerst können die Tänzer mal richtig abhängen. Die gefeierte Tanzperformance „Enfant“ von Boris Charmatz, die auf allen großen Festivals und nun auch in Berlin zu sehen ist, beginnt mit einem unheimlichen Maschinenballett. Wenn der Kran mit metallischem Klacken das Kabel losreißt, das an verschiedenen Stellen des Theaters befestigt ist, hat man den Eindruck: Hier will einer den Bühnenkasten im Haus der Berliner Festspiele zerlegen. Bis dann die Tänzer in die Fänge der Maschinerie geraten. Sie werden an einem Seil emporgehoben und baumeln kopfüber wie Schlachtvieh. Oder sie werden auf einer rotierenden Walze befördert wie ein Paket. Es hat fast schon etwas Komisches, wie die Tänzer sich völlig der Trägheit überlassen, wie sie die Kontrolle abgeben.

Wenn dann aber die neun Tänzer erschlaffte Kinderkörper auf ihren Armen auf die Bühne tragen, ruft das sofort ein Gefühl der Bedrohung hervor. Man denkt an Goethes „Erlkönig“. Die Kleinen scheinen zu schlafen, reglos und bewusstlos werden sie zum Objekt. Schutzlos sind die zarten Wesen den Blicken der Zuschauer ausgeliefert und dem Willen der erwachsenen Tänzer. Es ist wirklich eine Gratwanderung, die Boris Charmatz hier riskiert. Man fühlt sich fast schon wie ein Voyeur, wenn man zusieht, wie die Großen die Kleinen manipulieren. Wie sie sich die zerbrechlichen Körper auf den Bauch legen oder über die Schulter werfen, über den Boden schleifen oder durch die Luft wirbeln.

Bei der Uraufführung in Avignon im Juli wurde heiß diskutiert über die symbolische Gewalt, die in „Enfant“ verhandelt wird, aber auch darüber, dass die Tänzer die Kinder anfassen. Die szenischen Übergriffe rufen denn auch Assoziationen an Kindesmissbrauch hervor. Die Tänzer zeigen keine erkennbaren Emotionen, wenn sie an den Armen und Beinen der hilflosen Geschöpfe ziehen und zerren, sie schubsen oder schleudern. Diese neutrale Geschäftigkeit besiegelt den Objekt-Status der Kinder. Je länger die Szene dauert, desto schwerer ist sie zu ertragen. Denn man spürt, wie schutzlos die Kleinen sind, aber man erinnert vielleicht auch die Lust, die man als Kind verspürte, wenn man getragen oder herumgeschleudert wurde.

Die Erwachsenenwelt gerät dann in Aufruhr, die Männer und Frauen reißen sich die Kleider vom Leib, verlieren immer mehr die Kontrolle über sich. Die Kleinen aber schlummern weiter, unberührt von dem Bühnenchaos. Sie erwachen erst, als ein Dudelsackspieler die Bühne betritt, der wie der Rattenfänger von Hameln wirkt. Und bald gibt es kein Halten mehr.

Als ein kleines Mädchen trotzig aufstampft und gellende Laute ausstößt, wird es sofort ruhiggestellt. Doch wenn die anarchische Energie der Kinder sich schließlich Bahn bricht, ist das wie eine Befreiung. Es ist fantastisch, welche Energien Boris Charmatz zum Schluss von „Enfant“ entfesselt. Wenn die Kleinen über die Bühne rennen und springen, hat man in keinem Moment den Eindruck, dass sie an die Leine gelegt und fremdbestimmt sind. Charmatz zeigt sie als autonome Wesen und als richtige Tänzer, was nicht nur die Mütter vom Prenzlauer Berg entzückt.

Werdet wie die Kinder. Auch die großen Tänzer legen alle Hemmungen ab: Sie brechen in ungebärdige Bewegungen aus und heulen laut, anstatt, wie sie es gelernt haben, ihre Gefühle zu unterdrücken. Und wieder verschiebt sich die Wahrnehmung der Körper, wenn die Kleinen zuletzt die Großen bewegen. Die Zwerge haben die Riesen besiegt.Der französische Choreograf gibt am Schluss von „Enfant“ die Parole aus: Kinder an die Macht. Charmatz lässt einen anfangs die Ohnmacht der Kleinen spüren. Am Ende blickt man auf die Welt mit den Augen der Kinder. Toll! Sandra Luzina

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