zum Hauptinhalt
"Territoire perdu"

© Berlinale

Forum: Männer aus Eisen, Träume aus Sand

Politische Dokumentationen im FORUM: „Territoire Perdu“ bereist marokkanisch besetztes Gebiet in der Westsahara, „De Engel van Doel“ besucht ein flämisches Dorf, das einem Containerhafen weichen soll.

Schon vor den politischen Aufbrüchen in Nordafrika wurde Marokko gern als Hort relativer Demokratie in der Region beschworen. Die seit 1975 andauernde marokkanische Besetzung eines Teils der Westsahara, die trotz Waffenstillstand auch letzten Herbst Tote forderte, wird dabei leicht vergessen. Ein autonomes Gebiet ist durch eine verminte, 2400 Kilometer lange Sperranlage von der besetzten Zone getrennt: eine verlorene Heimat, die als Fata Morgana in den Träumen der Sahrauis in den Flüchtlingscamps erscheint. „Territoire Perdu“ nennt der belgische Anthropologe und Filmemacher Pierre-Yves Vandeweerd seine aus rauen Super-8-Aufnahmen und aufwendiger Toncollage komponierten Film, der sich von den Flüchtlingslagern an der algerischen Grenze auf den Sperrwall zubewegt.

Ein Dokument, ein Poem, mit unwirklich schönen Bildern von Dromedaren, einsamen Wüstenakazien, zermürbten Gesichtern, Lagerzelten, viel Licht und den harten Schatten von Panzern und marschierenden Kämpfern im Sand. Man hört den Wind, Fetzen von Gesängen, das Radio, klagende Kamele und Zeugenberichte, die von Bombardements und Verfolgung erzählen, Verlusten und Flucht - und von der Sehnsucht nach Heimkehr.

Ebenfalls kommentarlos und in Schwarz-Weiß, in langen ruhigen Einstellungen in Cinemascope: Tom Fassaerts „De Engel van Doel“. Auch hier verlorenes Land, das flämische Dorf Doel soll der Erweiterung des Antwerpener Containerhafens weichen. Ein paar Bewohner harren noch aus, auch Emilienne, die die Räumungsbescheide einfach ignoriert. Schließlich ist ihr Mann auf dem Kirchhof nebenan begraben. Beim Krabbenpulen werden die drohende Räumung und der jüngste Dorfklatsch debattiert; die ersten Häuser sind da schon abgerissen. Später sind auch die Nachbarinnen nicht mehr da, dafür kommen Hausbesetzer aus der Stadt. Sechs Jahre hat Fassaerts Team in Doel gedreht und teilweise gelebt. Das sieht man der schönen Intimität vieler Szenen an, wenn die Kamera nicht gerade einen Panoramablick vom Kirchturm bis zu den Ozeanriesen in der Ferne wirft.

Fassaerts oft statische Aufnahmen sind von malerischer Melancholie. Anders der Dokumentarfilm „Cheonggyecheon Medley: A Dream of Iron“, dem die Ausbildung des 1978 in Seoul geborenen Filmemachers Kelvin Kyung Kun Park an einer amerikanischen Designschule anzusehen ist. Er widmet der Veränderung eines Stadtteils einen mit elektronischem Sound und Animationen fast überkomplex geschichteten Essayfilm. Der Ort ist Cheonggyecheon, ein Viertel in Seoul mit kleinen Manufakturen, in denen Eisenwaren hergestellt werden. Park beobachtet die Arbeitsabläufe, fügt Archivmaterial aus der koreanischen Industriegeschichte und einen subjektiven Kommentar hinzu, der um die Traumata der Industrialisierung kreist und Einblicke ins Selbstverständnis der Südkoreaner gewährt. Der Ort wird zur Projektionsfläche; vergeblich hofft man auf Konkretes aus der Geschichte eines postindustriellen Stadtwandels.

Ein unmittelbar traumatischer Ort ist Schauplatz von „El Mocito“: das ehemalige Foltergefängnis des Geheimdienstes DINA in Santiago de Chile, in dem der junge Jorgelino Vergara während der Diktatur als „Junge für alles“ beschäftigt war. Er versorgte die Gefangenen mit Essen und die Folterer mit Kaffee – eine Mittäterkarriere. Mittlerweile ist Jorgelino im Rentenalter und haust als Wilderer in einer Hütte auf dem Land. Die Filmemacher Jean de Certeau und Marcela Said begegnen ihm zu einem Zeitpunkt persönlichen Umbruchs, als er versucht, in der Konfrontation mit den Geistern der Vergangenheit seinem Leben vielleicht doch noch einen Sinn zu geben: als Zeuge gegen frühere Vorgesetzte, die unerkannt und unbestraft in Chile leben.

Die Filmemacher begleiten Jorgelino auf der schwierigen Zeitreise zu verdrängten Orten und Zeiten. Über zwanzig Jahre sind seit dem Ende von Augosto Pinochets Diktatur vergangen. „El Mocito“ zeigt, welch langwierige und schwere Arbeit nach der Vertreibung eines Diktators bleibt. Ob in Chile, Südafrika oder dem Maghreb. Silvia Hallensleben

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false