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Big Country. 1946 fotografierte Evans das „Pabst Blue Ribbon Sign“ in Chicago, Illinois.

© Walker Evans Archive, The Metropolitan Museum of Art

Foto-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau: Walker Evans: Am Straßenrand von Amerika

Reduziert, distanziert, schwarz und weiß: Die Fotografien des 1975 verstorbenen US-Fotografen Walker Evans sind schlicht - und gerade dadurch eindrücklich. Das zeigt eine großartige Schau im Martin-Gropius-Bau.

David Bowie gegen Walker Evans. Glam Rock gegen schlichte Größe. Ein aufwendiges Multimedia-Spektakel dort, Schwarz-Weiß-Prints auf weißen Wänden hier: So sieht das Kontrastprogramm im Gropiusbau derzeit aus. Die Schau „Walker Evans. Ein Lebenswerk“ wirkt still, sogar ein wenig trocken. Sie entspricht der Ästhetik des großen Fotografen, der mit lakonischer Anteilnahme auf Amerika blickte. Und wie klein die Abzüge sind! Unscheinbar? Von wegen: rund 200 Vintage Prints von Evans, also historische, vom frischen Negativ hergestellte Positive in Berlin zu haben, das ist nichts weniger als eine Sensation. Es hat sich gelohnt auf Walker Evans (1903–1975) zu warten.

„Ein Traumprojekt“ sei die lange angepeilte erste große Evans-Retrospektive in Deutschland gewesen, schwärmt Gropius-Direktor Gereon Sievernich. Premiere, das muss man dazu sagen, war vor anderthalb Jahren in der Kölner SK Stiftung Kultur.

Sie basiert auf einer Schau, die 2010 im Cincinnati Art Museum entstand. James Crump, ehemaliger Chefkurator des US-Museums, will damit den Blick auf „den kompletten Evans“ aus vier Jahrzehnten lenken. „Die ikonischen Bilder der dreißiger Jahre haben das Schaffen davor und danach immer etwas verstell“, sagt Crump. Das Gros der Handabzüge stammt von dem Sammlerehepaar Worswick, das zur Eröffnung nach Berlin reiste. Bald nach dem Tod des Fotografen hatten sie mit dem Aufbau der Kollektion angefangen. „Ein Vierteljahrhundert später“, sagt Clark Worswick, „bin ich mehr denn je überzeugt davon, dass ein Künstler nach seinem Gesamtwerk beurteilt werden sollte.“

Walker Evans, schonungslos realistisch

Evans, 1903 in St. Louis geboren, brannte zunächst vor allem für die Literatur. Als Student in Paris konnte er 1927 James Joyce die Hand schütteln, und wie der irische Dichter schrieb, wollte er fotografieren: den Menschen, ihrem Alltag, ihrer Sprache zugewandt, schonungslos realistisch. Als „Rebellion gegen das Studioporträt“ bezeichnete er etwa die ab 1938 mit versteckter Kamera fotografierten Bilder New Yorker U-Bahn-Passagiere. Bewegte Gesichter, denen man beim Denken zusehen kann.

Susan Sontag schrieb, mit solchen Bildern habe Evans „viel von der kühleren, rüderen und kargeren Art des Fotografierens“ vorweggenommen, die allmählich eine Phase des Schönheitskults und Idealismus à la Walt Whitman abgelöst habe. Die erbarmungslose Kritikerin des Mediums („Das Abfotografieren eines anderen ist sublimierter Mord“) zollte Evans durchaus Tribut: „Wenn auch nicht der bedeutendste amerikanische Fotograf“ – das war für sie Paul Strand – sei Evans doch „sicher der bedeutendste von denen, die Amerika fotografiert haben“, schrieb Sontag. Tatsächlich reiste er kaum außerhalb der USA, frühe Fotos aus der Südsee und Kuba (wo er Hemingway kennenlernte) sind eher Randerscheinungen. Sein Lebenswerk war das Porträt Amerikas in tausend Bildern.

Der Fotograf der Großen Depression

Evans’ Bildnisse sind aus dem Leben gegriffen, das fällt überall ins Auge, ob es sich nun um Landarbeiter, Alte, Arme oder berühmte Weggefährten des Künstlers handelt. Neben Kollegen wie Berenice Abbott, James Agee, Robert Frank, dem Komponisten Samuel Barber oder dem Dramatiker Tennessee Williams ist ein junger Mann mit stechendem Blick zu betrachten: Auf dem eigenartigsten Porträt von dreien zerschneidet der halb nackte Lincoln Kirstein einen Plastiktrichter mit einer Schere. Kirstein war Evans’ wichtigster Mäzen. Die legendäre Evans-Ausstellung 1938 im New Yorker MoMA – es war die allererste monografische Fotoschau des Museums – kam maßgeblich durch den vier Jahre jüngeren Impresario zustande. „Er überfiel einen, war von penetranter Intelligenz“, sagte Evans später, und: „ausgerechnet dieser Student erklärte mir, was ich tat“. Außerdem stieß Kirstein ihn auf Motive. Gemeinsam waren sie 1931 in und um Boston unterwegs, um dort vom Verschwinden bedrohte viktorianische Architektur abzulichten. Evans fotografierte die Häuser meist im Streiflicht, lud sie mit Atmosphäre auf. „Die Kamera übernimmt die Persönlichkeit und den Charakter des Benutzers“, sagte Evans einmal, „der Geist geht durch die Maschine“. Das sei das Geheimnis der Fotografie.

Berühmt wurde Evans als Fotograf der Großen Depression.

Berühmt wurde er als Fotograf der Großen Depression im Amerika der Dreißiger. Als Roosevelt den New Deal ausrief, bot sich die große Chance für Evans: Im Staatsauftrag ab 1935 entstanden viele legendäre Fotos der bitterarmen Landbevölkerung in den Südstaaten.

Evans geht nah heran an die Menschen. Wo er ihre Behausungen, die Siedlungen, die Fabriken fotografiert, entstehen unschätzbare Dokumente ländlicher Strukturen. Man meint, in diesen Bildern herumspazieren zu können, riecht den Küchenduft, den Schweiß, den Müll.

Um der politischen Indienstnahme von vornherein zu entgehen, ließ sich Evans „No politics whatever“ in den Vertrag schreiben. Er beharrte darauf, dass seine Fotos Aufzeichnungen waren. Daraus abzuleiten, er habe sich als reiner Dokumentarist verstanden, wäre verfehlt. Evans begriff sich immer als Künstler, zu Zeiten, in denen dem Medium selten künstlerischer Eigenwert zugestanden wurde.

Schnappschüsse aus dem Taxifenster

Dass der Fotograf seine Kunst weiterentwickelte, dass er immer wieder neue Sujets und Perspektiven fand, belegen die Fotos der späteren Jahre. Auch die Serien, die er für das New Yorker Wirtschaftsmagazin „Fortune“ fotografierte – von 1945 bis 1965 gehörte er zum Redaktionsteam – lassen sich nicht vom sonstigen Werk trennen. Mit den Fotos, die er in den fünfziger Jahren in London schoss, übertraf er noch die Unmittelbarkeit seiner „Subway Passengers“. Es ist lebendigste Straßenfotografie, teils aus dem Taxifenster heraus aufgeschnappt, voller innerer Rahmungen, flüchtiger Schatten, beiläufiger Begegnungen. Evans war experimentierlustig. Er liebte Stillleben und menschenleere Interieurs und war doch genial darin, so die Abwesenden zu porträtieren. Hausfassaden, Schaufensterauslagen und Werbetafeln wurden zu Spiegeln des Sozialen.

Im finalen Kapitel der Ausstellung sollten farbige Polaroidfotos gezeigt werden, die Evans in seinen beiden letzten Lebensjahren machte. Obwohl der Künstler ein Verfechter des Schwarz-Weiß-Bildes mit seinen unendlichen Grau-Valeurs war, versuchte er es am Ende doch mit der „vulgären“ Farbe. Aus konservatorischen Gründen, wie es heißt, werden die empfindlichen Polaroids in Berlin nun doch nicht präsentiert. Leider. Eine Auswahl ist immerhin im vorzüglichen Begleitbuch abgedruckt. Am Schluss des Bandes erblickt man düsteren Asphalt, verwitterte Straßenmarkierungen, Abbiegepfeile ins Nirgendwo. Es sind abstrakte, wirklich letzte Bilder.

Martin-Gropius-Bau, bis 9. November, Begleitbuch: Hatje Cantz Verlag, 29 €

Jens Hinrichsen

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