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Fotografie: Der Rest vom Fest

An Feiertagen wird unermüdlich geknipst. Der Sammler und Buchkünstler Günter Karl Bose macht aus den Familienfotos faszinierende Bildbände. Nach dem opulenten Buch "Photomaton" mit 500 Automaten-Porträts ist nun "Xmess" erschienen.

„Stellt euch doch noch mal vor den Baum“, heißt es bis zum Jahreswechsel in vielen Familien. Bitte lächeln vor der Tanne, noch ein letztes Mal, manchmal hängen schon die Luftschlangen. Schön war’s wieder. Die meisten dieser Fotos wandern in Familienalben oder verschwinden in den unendlichen Weiten der Fotoarchive auf Festplatten. Manche landen irgendwann in Schuhkartons, auf dem Flohmarkt, bei spezialisierten Händlern oder im Internet. Hier geht Günter Karl Bose auf die Suche. Besonders historische Weihnachtsfotografien haben es ihm angetan.

Der 1951 in Wesermünde geborene Professor für Typografie in Leipzig sammelt Fotografien, Automaten-, Familien- und Pressebilder. Tausende Fotos sind auf diese Weise zusammengekommen. In seiner Schöneberger Altbauwohnung bewahrt Bose sie sorgfältig in grauen Archivschachteln auf und systematisiert sie im nahe gelegenen Atelier. Schon die Beschriftungen geben Einblick in seine breit gefächerten Interessen: „Zirkus“, „Mörder“, „Seebäder“, „Zeppeline und andere Himmelskörper“. Bose trägt Jeanshemd, Dreitagebart und Lesebrille; er öffnet Kasten für Kasten und verweist mit der Leidenschaft des Sammlers in den Fotomappen auf immer neue Details.

Seine Begeisterung für anonyme Fotografie entdeckte Bose bereits in den siebziger Jahren. Neben dem Studium der Politik- und Literaturwissenschaft in Freiburg begann er, Bilder aus den 1840er Jahren, der Frühzeit der Fotografie, zu sammeln und zu erforschen. Manche Sammlung hat Bose später wieder verkauft, aus anderen werden Bücher. Wie etwa aus den Weihnachtsbildern: Seit 2007 entwickelt er mit Studierenden aus seiner Klasse an der Leipziger Akademie eine Jahresedition mit Weihnachtsmotiven wie Christbäume und Lichtdekorationen. Die in kleiner Auflage erscheinenden Heftchen sind immer schnell vergriffen. Dieses Jahr ist das erste gebundene Exemplar unter dem Titel „Xmess“ in leuchtendem Rot und Pink erschienen. Auflage: 300 Exemplare, Preis: 18 Euro, erhältlich unter www.institutbuchkunst. hgb-leipzig.de.

Das Buch vereint anonyme Fotografien aus der Zeit von 1900 bis 1990, und schon die Schreibweise gibt den Wink, dass es um eher schräge Motive geht – mess: eine schöne Bescherung. Da stehen amerikanische weiße Plastiktannen in coolen Apartments, eine spitzbusige Rothaarige posiert gleich mehrfach vor dem Christbaum. Rührend wirkt der mit einem Zweig geschmückte Vogelkäfig, auf dem Bild daneben sitzen Soldaten mit Stahlhelm unter der Tanne.

Ein wenig verboten kommt einem dieser Schlüssellochblick in fremde Wohnzimmer schon vor. Viele Motive wirken seltsam vertraut, wie längst verstorbene Verwandte, von denen noch Geschichten in der Familie kursieren. Bei manchen Bildern faszinieren die Peinlichkeit und Scheußlichkeit des Weihnachtskitsches, andere zeigen biografische Wendepunkte wie das 1927 entstandene Bild „Das erste Weihnachten im eigenen Heim“, auf dem ein Ehepaar die Kerzen am bescheidenen Tischbäumchen entzündet.

„Fotos sind außergewöhnliche historische Quellen“, sagt Günter Karl Bose, dem kein Detail entgeht. Dabei ergibt das Ganze immer mehr als die Summe seiner Teile. Und gerade die serielle Anordnung lenkt den Blick auf das Besondere. Das gilt insbesondere für Boses Sammlung von Automatenbildern, zu der 2011 das opulente Buch „Photomaton. 500 Automatenbilder: Frauen Männer Kinder 1928 und 1945“ erschienen ist. Am Potsdamer Platz stand damals das erste Studio mit Automaten, die es jedem Passanten ermöglichten, für wenig Geld ein unbeobachtetes Selbstporträt zu erstellen.

Der Ausschnitt der Porträts ist nahezu immer gleich gewählt: Herren mit Schirmmütze oder Frack, Kinder mit riesigen Schleifen auf dem Kopf oder in Uniform, Damen mit Fellkragen oder einer Rose zwischen den Zähnen – Momentaufnahmen, deren Summe ein Panoptikum des städtischen Lebens dieser Jahre ergibt. Frisuren, Ketten, Brillen und Accessoires wie Teddybären, Telefonhörer und Zigarette lassen Rückschlüsse auf das Leben der Menschen zu, das während des Zweiten Weltkriegs immer schwerer wurde. Schon vor Kriegsende, so erzählt Bose, haben die Frauen häufig jene Kopftücher getragen, für die später die Trümmerfrauen bekannt wurden. Denn ab 1944 gab es in Berlin kaum noch die Möglichkeit, sich frisieren zu lassen.

Das Buch aus den sorgsam zusammengetragenen Fundstücken ist hochwertig produziert. Bose editiert Bücher aus Leidenschaft und mit in jahrelanger Praxis verfeinertem Sachverstand. Vor 30 Jahren gründete er mit Erich Brinkmann den Verlag Brinkmann & Bose, in dem legendäre und vielfach ausgezeichnete Publikationen von Jacques Derrida, Marguerite Duras und Friedrich Kittler erschienen sind. Der Kreuzberger Verlag setzte nicht nur technisch neue Maßstäbe für die Buchproduktion, sondern auch für experimentelle Typografie. Im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main wird er noch bis Mitte Januar mit einer Ausstellung und einem sehr lesenswerten Katalog gewürdigt. Wobei Bose selbst schon 1995 aus dem eigentlichen Verlagsgeschäft ausgestiegen ist, als er den Ruf an die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig erhielt. Dort arbeitet er seit 1997 auch als künstlerischer Leiter des Instituts für Buchkunst. In Berlin wiederum gestaltete Bose während der Ära von Kirsten Harms die Publikationen der Deutschen Oper. Außerdem ist er für das Erscheinungsbild des „Musikfest Berlin“ verantwortlich.

Auch nach Stunden ist Bose noch hoch konzentriert, er könnte wohl unermüdlich weitere Archivboxen öffnen. Obwohl viele Abgebildete für ihn gute Bekannte geworden sind, bleibt seine Faszination für das menschliche Antlitz ungebrochen. Sein jüngstes Sammlungsgebiet: glamouröse Porträts von Hollywoodschönheiten der fünfziger Jahre.

Katrin Wittneven

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