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Aufgelesen. Sasse fotografiert seine Motive seit drei Jahrzehnten genau so, wie er sie vorgefunden hat.

© Jörg Sasse, Courtesy Galerie Wilma Tolksdorf, Frankfurt

Fotokunst: Das Geheimnis der kleinen Dinge

Stiller Horror, schäbig gewordene Pracht: Jörg Sasses Fotostillleben sehen oft wie Tatort-Dokumente aus. C/O Berlin präsentiert Sasses Werk nun erstmals umfassend in Berlin.

Die Welt besteht aus lauter Details. Es sind die kleinen, unscheinbaren Dinge, die das tägliche Leben erleichtern und von denen eine eigentümliche Poesie ausgeht. Jörg Sasse fotografiert Waschbecken, Couchgarnituren, Jagdtrophäen, Spiegel, Treppenaufgänge, Küchenradios, Heizungsrippen, Türschwellen, Gummibäume und Nippes. Kein Gegenstand ist ihm zu banal, jeder scheint eine Geschichte, ein Geheimnis zu bergen. Eng aneinandergeschobene Cocktailsessel erinnern an die Wohnungsnot der Nachkriegszeit. Unter einem Vorhang kriechen die Zweige einer Zimmerpflanze wie Tintenfischtentakel hervor. Die zerdrückten Kissen auf einem Doppelbett könnten ein Ehedrama, einen Krankenfall oder die Leidenschaft einer Affäre bezeugen. Und hängen über den beiden an einer Partykellertheke stehenden Barhockern nicht noch die Stimmen der Menschen, die einst auf ihnen saßen, tranken und lachten?

Doch damit befinden wir uns bereits in der Rezeptionsfalle. Denn natürlich erzählen die Dinge auf diesen perfekt ausgeleuchteten, farbenfroh strahlenden Stillleben gar nichts. Sie schweigen. „Das Denken ist das Sekundäre“, sagt Sasse. „Es geht um Seherfahrung.“ „Common Places“ heißt die Ausstellung in der C/O-Galerie, die sein Werk erstmals umfassend in Berlin präsentiert. Sasses Bilder zeigen Orte der allergewöhnlichsten Art. Nichts ist gestellt oder arrangiert. Sasse versteht sich als getreulicher Dokumentarist einer unspektakulären, oft übersehenen Wirklichkeit. Seine Motive fotografiert er seit drei Jahrzehnten so, wie er sie vorgefunden hat, ursprünglich mit einer Großbildkamera, seit Anfang der Nullerjahre mit der Digitalkamera. Er inszeniert nicht, er entdeckt. Aber steckt nicht schon in seiner Auswahl der Regieeinfall? „Der größte Eingriff ist der, dass man etwas weglässt“, sagt er, „den Geruch eines Raums oder seine Stimmung .“

Wer trug diese Kleider? Sasse inszeniert nichts. Aber die serielle Strenge seiner Bilder lädt die Objekte mit Rätseln auf.
Wer trug diese Kleider? Sasse inszeniert nichts. Aber die serielle Strenge seiner Bilder lädt die Objekte mit Rätseln auf.

© Copyright Jörg Sasse, Courtesy Galerie nächst St. Stephan, Rosemarie Schwarzwälder, Wien

Einige der 110 Stillleben, die in zehn thematischen Blöcken zusammengefasst sind, zeigen Schaufensterauslagen oder Geschäftsdekorationen, was bei genauem Hinsehen an dezenten Glasspiegelungen zu erkennen ist. Da reihen sich Stoffe in schrillen exotischen Mustern aneinander, und eine Schaufensterpuppe, die einen blauen Kunstledermantel trägt, wirkt wie ein Wesen aus der Geisterbahn. Ansonsten ist es eine erkennbar benutzte, abgewohnte, schäbig gewordene Welt, in die Sasses Fotos den Betrachter versetzen. Das Seifenstück am Waschbecken ist abgegriffen, die Wand neben dem Lichtschalter mit speckigen Fingerflecken übersät. Ein Röhrenradio der Marke Graetz steht vielleicht schon ein halbes Jahrhundert lang in seiner Zimmerecke. Selbst der röhrende Hirsch auf der Schrankwand, Inbegriff provinzieller Gemütlichkeit, fehlt nicht. Etwas Beklemmendes und Bedrohliches geht von diesen Aufnahmen aus, der eisige Horror von Tatortfotos.

Jörg Sasse, der 1962 in Bad Salzuflen geboren wurde und seit 2006 in Berlin lebt, hat bei Bernd Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert. Seine Bilder strahlen eine serielle Strenge aus, die man auch von anderen Becher-Schülern kennt. Mit ihrer Hinwendung zur Kleinteiligkeit der Dingwelt markieren sie eine Gegenposition zu den panoramahaften Wimmelbildern eines Andreas Gursky. Einen schöneren Ausstellungsraum als den Saal im Obergeschoss des ehemaligen Postfuhramts kann man sich für diese Stillleben kaum vorstellen. Ursprünglich eine Bibliothek, war der Raum zu DDR-Zeiten zur Trainingshalle für Betriebssportler umgebaut worden. Spielfeldmarkierungen auf dem abgetretenen Parkett erinnern daran. Die Zeiten geraten ins Rutschen, wie auf Sasses Fotos.

Jörg Sasse ist ein Jäger und Sammler. Zur Ausstellung gehört auch „Speicher 2“, eine Art Skulptur gewordenes Archiv, das er 2010 für die Kulturhauptstadt Essen geschaffen hatte. Es enthält 512 Bilder, die Sasse größtenteils auf Flohmärkten gefunden hat. In der subjektiven Sicht von Amateurfotografen schildern sie die Entwicklung des Ruhrgebiets seit 1945. Nach Stichworten wie „Fassaden“, „Brücken und Tunnel“ oder „Heile Welt“ sortiert, können die Besucher sie von Galeriemitarbeitern in wechselnden Kombinationen aufhängen lassen. „Ich erlaube mir, nicht zu illustrieren“, lautet Sasses Credo. „Das überlasse ich den Bildern.“ Seine Ausstellung wird zum Perpetuum mobile.

C/O Berlin, Oranienburger Str. 35/36, bis 28. Oktober, täglich 11 – 20 Uhr

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