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Licht im Schatten: Alfred Ehrhardts „Landschaft am Rande des Wattenmeers“ (1933-1936).

© bpk /Alfred Ehrhardt Stiftung

Fotos in der Alfred-Erhardt-Stiftungl: Kurven aus Wasser

Alfred Erhardt fotografierte „Das Watt“ als abstrakte Landschaft. Nun sind seine neusachlichen Aufnahmen erstmals in Berlin zu sehen.

Der feuchte Sand erinnert an die Schuppen eines Tannenzapfens. Nach einem Sturm ergeben sich zarte Gewebe, die wie die Oberflächen von Zuckerschoten aussehen. Und manchmal fließen terrassenartig angelegte Linien in eindrucksvoller Parallelbewegung, wenn sich eine Sandschicht über die andere schiebt.

Strenge geometrische Formationen fängt die Kamera ein. Genau wie solche, in denen die Urgewalt des Meeres das Ufer durchpflügt. Filigrane Blattstrukturen bei Ebbe und millimetertiefe Rinnen stehen neben erhabenen, puzzleartigen Erdhäufchen ähnlich einer geografischen Reliefkarte oder Totalen von Prielverläufen in schlickiger Gegend oder anbrandender Flut, die der Fotograf Alfred Ehrhardt (1901–1984) für seine Serie „Das Watt“ zusammentrug. Präzise sind die Titel seiner Bilder: „Vierfache Unterteilung der Wellungsrichtung“ heißen sie oder „Mit wilder Wasserkraft in den Boden hineingerissener Wassergraben“. Sie zeugen aber ebenso von der Fantasie des Fotografen, wenn er in der von Ebbe und Flut geschaffenen Nordseelandschaft „Tierähnliche Gebilde (Larven)“ ausmacht oder „Wie von den Meeren umgebenen Erdteile“.

Seit ihrer Gründung 2002 hat die Alfred-Erhardt-Stiftung, die sonst zeitgenössische Fotografie in der Tradition der Neuen Sachlichkeit zeigt, an dieser Ausstellung gefeilt. Nun konzentriert sie sich mit 70 Vintageprints der Watt-Serie (1933–1936) auf Ehrhardts fotografisches Erstlingswerk, das zu den herausragenden Bildleistungen der Avantgarde-Fotografie jener Zeit gehört. Beschrieb Kollege Albert Renger-Patzsch Naturdarstellungen als objektive Dokumente, so ließ sich für Ehrhardt Dokumentarisches und Atmosphärisches nicht trennen. Er war dem Erhabenen der Schöpfung auf der Spur, suchte ihre „unvergängliche Lebendigkeit“. Von Goethes Morphologie borgte er sich den Begriff des „organischen Ganzen“, vom Freidenker Ernst Haeckel die These, nach der die Entwicklung des Individuellen jene der Phylogenese rekapituliere. Ein zeitgenössischer Kritiker taufte Erhardt den „Naturphilosophen mit der Kamera“. Fasziniert war der Fotograf von den gesetzmäßigen Strukturen der Riffelungen und Furchen an den Gestaden um Cuxhaven.

Nachdem ihn die Nationalsozialisten im April 1933 aus seinem Lehramt an der Hamburger Landeskunstschule entlassen hatten, wirkte der ausgebildete Musiker als Kirchenorganist. Seine Bewunderung für Bachs „Kunst der Fuge“ spiegelt sich nun auch fotografisch in seiner Serie vom Watt, die die Themen Wasser, Luft und Erde in allen erdenklichen Varianten umkreist. Betrachtet man die raffiniert erfassten und subtil beleuchteten Priel- und Schlicklandschaften, kann man kaum glauben, dass Alfred Ehrhardt als Autodidakt zur Fotografie gelangte.

Der Künstler arbeitet mit seiner Zeiss-Ikon bevorzugt bei tief stehender Sonne, um die ornamentalen Oberflächen des Watts prägnant herauszumeißeln. Charakteristisch nicht nur für seine Watt-Aufnahmen ist die Diagonale als Hauptachse der Komposition, die meist von links unten nach rechts oben verläuft. So wird der Blick in das Bild gezogen, „durchwandert“ gleichsam die Landschaft und steigt am oberen Bildrand wieder aus. Dank sorgsamer Kontrastierung von Licht und Schatten erzielt der Fotograf zusätzliche Spannung. Ehrhardts Gespür für Textur und Rhythmus wurde 1929 entscheidend geprägt durch die Teilnahme an einem Bauhaus-Vorkurs bei Josef Albers. Hier wurde er mit jener am Material erlernten Gestaltungspraxis konfrontiert, die maßgeblich in seine Fotografien eingeflossen ist: Material wird nicht als tote Masse aufgefasst, sondern in Ehrhardts Worten als „eine dauernd lebendige außermenschliche Erscheinung mit eigenen Lebensgesetzen“. Dynamik und Ruhe vermitteln seine Küstenaufnahmen gleichermaßen.

Erfreulich, dass sich nun der französische Verleger Xavier Barral entschied, Ehrhardts Meisterwerk von 1937 als Faksimile herauszugeben. Die rührige Stiftung hat dies zum Anlass genommen, die variantenreiche Serie zu zeigen. Eine schöne Geschichte ist die Genese der Neuauflage, ist doch Barral im vergangenen Jahr als Verleger des atemberaubenden Coffeetable-Books „Mars“ hervorgetreten, das die Vulkankrater und Eisformationen mit der größten Kamera eingefangen hat, die jemals auf einen anderen Planeten geschickt wurde. Als Barral in einem Pariser Antiquariat Ehrhardts ersten Fotoband entdeckte, war er erstaunt über die Analogien in Form und Struktur der Oberflächen von Mars und Wattenmeer. Hier bestätigt sich Ehrhardts Überzeugung, dass sich Mikrokosmos und Makrokosmos spiegeln.

Alfred-Ehrhardt-Stiftung, Auguststr. 75; bis 27. April, Di–So 11–18 Uhr, Do 11–21 Uhr (Ostern geschlossen). Der faksimilierte Bildband kostet 45 Euro.

Martina Jammers

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