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Kultur: Frankenstein aus dem Kaukasus

Trauma Tschetschenien: Nach Beslan hält der Terror Einzug in Russland – in den Köpfen, in der Politik, im Film und in der Kunst

Terroristen sind unsichtbare Feinde. Wer sie treffen will, muss in alle Richtungen gleichzeitig schlagen. Wohl deshalb wird in Russland seit dem Geiseldrama von Beslan an allen Fronten gegen den Terror mobil gemacht. Im Namen der nationalen Sicherheit wurden bislang: die freien Gouverneurswahlen abgeschafft; die Arbeitsbedingungen kleiner Parteien erschwert; die Umstellung des tatarischen Alphabets von kyrillischer zu lateinischer Schreibung untersagt; zur ehrenamtlichen Bespitzelung der eigenen Nachbarn aufgerufen und sogar gegen den Genuss von Flaschenbier auf offener Straße Stimmung gemacht.

Internationale Organisationen sehen sich zunehmend beschuldigt, das Land von innen zersetzen zu wollen, während die ukrainische Orangenrevolution als Versuch gewertet wird, Russland die letzten Verbündeten im Ausland abspenstig zu machen. Ein Land sucht nach Feinden, und wo es keine findet, macht es sich welche – innerhalb wie außerhalb der Landesgrenzen.

Wer schlägt, der liebt, weiß ein russisches Sprichwort. Eine überwältigende Bevölkerungsmehrheit unterstützt Wladimir Putins Schattenboxen als Schutzbemühungen eines treusorgenden Landesvaters. Schützenhilfe wird dem Präsidenten dabei aus den seltsamsten Richtungen zuteil – etwa von einem jungen Kinoregisseur namens Jewgenij Lawrentijew, der mit dem Actionfilm Litschnyj Nomer („Kennziffer“) gerade so etwas wie den Film zur Lage der Nation gedreht haben will.

In „Kennziffer“ zermalmt ein beinharter Agent im Alleingang sämtliche Landesfeinde – als da wären: eine Bande tschetschenischer Separatisten, die einen Moskauer Zirkus in ihre Gewalt bringt; eine arabische Terroreinheit, die mit einer gestohlenen russischen Atombombe Rom auslöschen will; ein abgefeimter Exil-Oligarch, der vom schütteren Scheitel bis zur senfgelben Sohle als Abklatsch des realen Boris Beresowskij zu erkennen ist, sowie weitere tschetschenische Freischärler, die dem Helden zum Filmbeginn unter Drogeneinfluss das Geständnis abnötigen, die Moskauer Wohnhausattentate von 1999 selbst veranlasst zu haben, um der Regierung einen Vorwand für den zweiten Tschetschenenkrieg zu liefern.

Zwei Popcorn-Halbzeiten später ist die Geiselnahme unblutig beendet, statt Rom das arabische Terrorcamp ausgebombt, der Oligarch kalt- und die Ehre des Agenten wiederhergestellt. Für seinen Einsatz fürs Vaterland wurde Regisseur Lawrentijew großzügig vom russischen Kulturministerium unterstützt. Als Förderer firmiert zudem ein ominöser „Veteranenverein der Russischen Sicherheitsdienste“, der zur Moskauer Premiere sogar mit Ehrengarde und Blaskapelle aufmarschierte.

Zum Glück bleibt derlei auch in Russland nicht unwidersprochen – unter Intellektuellen und Künstlern sorgt der staatlich gelenkte Verfolgungswahn zunehmend für Unbehagen. Die Essayistin Tatjana Matwejewa etwa kritisierte kürzlich, die Regierung habe zwar nach Beslan nicht mit nationalistischen Einheitsbeschwörungen gespart, gleichzeitig sei jedoch niemand willens, dem Kaukasus einen Platz im nationalen Selbstbild einzuräumen.

„Wer in Russland könnte auch nur einen dagestanischen Schriftsteller nennen? Niemand, kulturelle Verbindungen existieren schlichtweg nicht. Wie lässt sich in einer solchen Situation von gemeinsamen Werten sprechen?“ Nicht nur habe die kaukasische Intelligenzia keinen Anteil an der Nationalkultur, zudem werde in deren populären Spielarten alles getan, um die weltanschaulichen Gräben noch weiter zu vertiefen: „Patriotische Fernsehserien, in denen Agenten tschetschenische Verbrecher zur Strecke bringen, müssen endlich von den Bildschirmen verschwinden.“

Andere Intellektuelle nutzen die Kunst als Ort des öffentlichen Nachdenkens über Tschetschenien – und werden damit auch zunehmend wahrgenommen. Dem 23-jährigen Maler David Ter-Oganjan etwa wurde vor wenigen Wochen einer der renommiertesten russischen Kunstpreise verliehen, das Schwarze Quadrat. Unter dem Titel „Operazija“ zeigte Ter-Oganjan in seiner Sieger-Arbeit abstrakte geometrische Kompositionen, in denen sich bei näherem Hinsehen Grundrisse einer urbanen Landschaft erkennen lassen – die Andeutung einer operative Skizzen. Handelt es sich um den Ablaufplan eines terroristischen Verbrechens?

Die Jury lobte jedenfalls die Anklänge an Malewitsch und die politische Brisanz des Werks: „David Ter-Oganjan verknüpft Kunstgeschichte scharfsinnig mit Zeitgeschichte und bejaht überzeugend die Frage, ob Kunst nach Beslan möglich ist“, hieß es.

Aus einer vollkommen anderen Richtung äußert sich Musikproduzent Iwan Schapowalow, Erfinder des pseudolesbischen Skandalduos Tatu. Von seinen Schützlingen im Sommer vor die Tür gesetzt, suchte Schapowalow nach neuen Schockeffekten – und flirtet seither mit dem Terror. Im Südural trieb er eine 16-jährige Tadschikin namens „Nato“ auf, deren erstes Konzert als „musikalischer Terrorakt ohne jede Koketterie“ angekündigt wurde: Ausgerechnet am 11. September sollte Nato in schwarzer Burka in Moskau auftreten. Die Eintrittskarten waren wie Flugtickets gestaltet, während der Show sollte ein Al-Dschasira-artiger Nachrichtenticker Schlagwörter wie „Öl“, „Irak“ und „Al Quaida“ auf die Bühne projizieren.

Als kurz vorher der reale Terror Beslan heimsuchte, wurde die Show von der Stadt jedoch abgesagt. Ein Video inklusive angedeuteter Selbstsprengungsszene kursiert allerdings bis heute im Internet, ein erstes Album soll im Frühjahr erscheinen. Die einen halten Schapowalow seitdem für eine Art russische Version des Sex-Pistols-Erfinders Malcolm McLaren, andere sehen ihn ihm dagegen einen kranken Spinner. „Wenn sich die Leute vor einer Frau mit schwarzem Schleier fürchten“, kontert Schapowalow, „dann sind sie selbst krank.“

Die bislang überzeugendste künstlerische Äußerung zu Tschetschenien gelingt einem Film, in dem die Kaukasusregion nur als fernes Echo vorkommt. In „Mein Stiefbruder Frankenstein“ lässt Regisseur Valerij Todorowskij einen an Körper und Seele entstellten Soldaten von der Front in die Heimat zurückkehren. Eine bürgerliche Moskauer Familie gewährt dem Fremden nur deshalb Asyl, weil er behauptet, der Sohn des Familienvaters Julik zu sein – eine Jugendsünde aus Studententagen. Eine Weile lebt es sich irgendwie mit dem Fremden, man klopft ihm auf die Schulter und lobt seinen selbstlosen Einsatz fürs Vaterland.

Dann aber wird immer deutlicher, wie nachhaltig sich der Krieg dieses Heimkehrers bemächtigt hat. Ein Auge hat er verloren, mit dem anderen hat er zuviel gesehen, und deshalb wird Pawlik den Gedanken an den allgegenwärtigen Feind auch in der Normalität des Moskauer Alltags nicht los. Als seine verwüstete Psyche zunehmend das Familienleben der Krymows belastet, versucht sein Vater verzweifelt, sich des Außenseiters zu entledigen – vergeblich: So leicht wird man die eigene Vergangenheit nicht los, so wenig wie sich ein Krieg aus dem nationalen Gedächtnis verbannen lässt.

Darin besteht der Kunstgriff dieses überraschenden Films: Er lässt das Verheerungspotenzial Tschetscheniens dort fühlbar werden, wo es dem russischen Zuschauer am meisten weh tut – nicht in den entlegenen Berghängen des Kaukasus, sondern im Herzen einer Moskauer Durchschnittsfamilie.

Was aber hat Pawlik zu dem gemacht, was er ist? Der tschetschenische Terror? Genau diese Lesart versperrt der Film seinen Zuschauern. Denn Frankenstein ist die Kreatur, die sich gegen ihren Schöpfer wendet. Russland schickt seine Söhne in den Krieg, und sie kehren als Monster zurück. In Todorowskijs Film ist Tschetschenien keine ferne Hölle im Kaukasus. Sondern ein unaufgeräumtes Zimmer in der russischen Psyche.

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