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Sein Reich. Kanonische Bände zuhause in der Wohnung des großen Kritikers.

© Katrin Denkewitz/laif

Frankfurter Elegie: Mit Marcel Reich-Ranicki stirbt ein intellektuelles Milieu

Marcel Reich-Ranicki wird beerdigt, der Suhrkamp-Verlag steht am Abgrund: Eine Epoche, die von der Stadt Frankfurt mitgeprägt wurde, geht zu Ende. Abschied vom Kanon.

Es gibt eine seltsame Koinzidenz an diesem zunächst düsteren, später herrlich sonnigen Frankfurter Frühherbsttag, an dem auf dem Hauptfriedhof die Trauerfeier für Marcel Reich-Ranicki abgehalten wird. Praktisch mit dem Ende der Trauerstunde vermeldet der Suhrkamp Verlag den Tod der Lyrikerin, Übersetzerin und Lektorin Elisabeth Borchers in Frankfurt am Main. Borchers, die 87 Jahre alt wurde, hatte von 1971 bis 1994 als Lektorin im Suhrkamp und Insel Verlag gearbeitet. Und ein paar Stunden zuvor bekräftigten die Autoren des Suhrkamp Verlags noch einmal in einem öffentlich Aufruf ihre Zustimmung zum Insolvenzplan des Verlages und erklärten, dass sie mit Hans Barlach, dem mit allen Mitteln um die Macht im Verlag kämpfenden Gesellschafter, in keinem Fall zusammenarbeiten würden. Suhrkamp steht, wie lange schon, am Abgrund.

So macht es den Eindruck, als sei dieser Abschied von Marcel Reich-Ranicki noch viel mehr als der Abschied von einem Menschen mit einer für dieses Jahrhundert exemplarischen Biografie, von einem großen Literaturkritiker und allmählich auch einer Literaturkritikergeneration. Es ist, mit dem Tod von Elisabeth Borchers, mit dem um seine Existenz kämpfenden, jahrzehntelang in Frankfurt beheimateten Suhrkamp Verlag, auch der Abschied von einem intellektuellen Milieu, einem Frankfurter Milieu zumal.

Als Marcel Reich-Ranicki vergangenen Mittwoch im Alter von 93 Jahren verstarb, hatte es tagelang große Nachrufe gegeben, oft auf mehreren Seiten in den großen Blättern, aber auch in den Boulevardmedien. Allerdings ist die große „geistige Mittelklasse“, als deren Vertreter Thomas Gottschalk sich später bei der Trauerfeier bezeichnet, im Eingangsbereich des Hauptfriedhofs zahlenmäßig nicht so groß vertreten. Statt der erwarteten tausend Menschen sind es nicht mehr als hundert, hundertfünfzig, die Marcel Reich-Ranicki die letzte Ehre erweisen wollen, fast weniger, als sich in der Trauerhalle an Gästen, Literaturbetriebsvertretern, Familienangehörigen und Nachbarn versammelt haben. Es fehlt Ulla Unseld-Berkéwicz, obwohl doch Reich-Ranickis 2006 zum Abschluss gebrachter Kanon der deutschsprachigen Literatur im Insel Verlag erschienen ist, der zum Suhrkamp Verlag gehört. Allein die Romane umfassen zwanzig, die Dramen acht Bände.

"Er hätte auch diese Veranstaltung rezensiert", sagt Frank Schirrmacher

Dafür ist Joachim Unseld da, der Reich-Ranicki-Biograf Uwe Wittstock, „Literarisches Quartett“-Mitstreiter wie Hellmuth Karasek und Iris Radisch sowie Literaturkritiker wie Volker Hage und Ulrich Greiner, die in ihren jungen Jahren noch mit Reich-Ranicki zusammengearbeitet haben. Ja, der Bücherpapst ist gegangen, der Letzte, auch das geht einem bei dieser Gelegenheit durch den Sinn, dem man einen Kanon noch abgenommen hat.

Bundespräsident Joachim Gauck ist mit seiner Lebensgefährtin gekommen, ohne als Redner aufzutreten. Der oberste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland erweist noch einmal dem Mann die Ehre, dem die Deutschen nach dem Leben trachteten, der dem Schicksal von Millionen Juden in Polen entging und der dann später diese Deutschen „auf beste und uneinholbare Weise für ihre eigene Literatur eingenommen hat“, wie es Rachel Salamander in ihrer Rede formuliert.

Der „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher ist es dann, der noch einmal den Kritiker Marcel Reich-Ranicki auf dessen ureigenen Punkt bringt. „Er hätte auch diese Veranstaltung rezensiert.“ Eine Beerdigung ohne Polizeiwagen tauge nichts, habe Reich-Ranicki einmal geurteilt, so Schirrmacher mit Blick auf das Sicherheitsaufgebot für Gauck, und in diesem Sinn wäre er schon nach der Hälfte der Veranstaltung sehr zufrieden gewesen.

Sieht man einmal davon ab, dass der Andrang draußen nicht ganz so groß ist und insbesondere auch nur so sehr wenige Schriftsteller gekommen sind (was den zwar streitbaren, aber immer auf Versöhnung ausgehenden Reich-Ranicki sicher enttäuscht hätte), so wäre er mit der Trauerfeier an sich bestimmt sehr einverstanden gewesen. Sie hat Würde, sie hat Prägnanz, sie zeigt den Facettenreichtum von Reich-Ranickis Leben und Werk und sie ist kurzweilig, beginnend mit Musik von Johann Sebastian Bach und endend mit Puccinis „La Bohème“. Wofür natürlich auch Thomas Gottschalk als letzter Redner sorgt. Gottschalk findet mit dem „Vokabular des Entertainers“ durchaus den richtigen Ton, selbst dann, als er von Reich-Ranickis Besuchen bei „Wetten, dass..?“ erzählt: „Er saß da manchmal in absonderlicher Gesellschaft, und er ergab sich, ohne jegliche intellektuelle Arroganz, dem sinnlosen Treiben.“

Am bewegendsten ist die Erinnerung des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Salomon Korn. Er erzählt von seinem letzten Besuch bei Reich-Ranicki, wie dieser sich schon in einem „Dämmerzustand“ befunden habe und er, „der nicht an Gott glaubte“, dann beim Abschied kaum hörbar „Adieu“ hauchte.

Nach Gottschalks Rede und dem musikalischen Kehraus geht es allerdings nicht zum Grab, sondern umgehend zu Kaffee und Kuchen in das Haus der Chöre. Wie bei seiner Frau Tosia, die 2011 91-jährig gestorben war, wird es in den nächsten Tagen eine Feuerbestattung und eine Urnenbeisetzung im engsten Familienkreis geben.

Einen Monat später schließt sich daran noch eine öffentliche Gedenkfeier für Reich-Ranicki in der Paulskirche an. An jenem Ort, wo am 13. Oktober, zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse, die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wird.

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