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Kraftakt. Der amtierende Präsident Nicolas Sarkozy beschwört bei einem Wahlkampfauftritt am Dienstag in Morlaix das starke Frankreich.

© Reuters

Frankreich vor der Wahl: „Wir haben eine monarchistische Republik“

Sarkozy agiert aggressiv und Hollande reagiert defensiv: ein Gespräch mit dem Regisseur und Autor Benjamin Korn über den Rassismus und die Tabus der Grande Nation.

Herr Korn, Sie sind als Regisseur und Autor vor über 20 Jahren von Deutschland nach Paris gezogen. Schauen Sie am Sonntag beim ersten Wahlgang für die französische Präsidentschaft nur zu?

Ich bin auch wahlberechtigt.

Sie haben die doppelte Staatsbürgerschaft?

Nein, ich habe nur einen französischen Pass. Ich bin nach dem Krieg in Polen geboren, meine Eltern kamen dann nach Deutschland, aber wir waren zunächst staatenlos. Ich hätte die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wollte jedoch nicht zur Bundeswehr. Als Jude hätte ich das auch nicht gemusst, aber mich eigens darauf berufen zu müssen, wollte ich gleichfalls nicht. Erst später in Frankreich dachte ich, ein Pass wäre doch ganz gut.

Nicolas Sarkozy gegen François Hollande: Welche Wahl hat Frankreich?

Natürlich versuchen die beiden Hauptkontrahenten ihre Unterschiede zu betonen. Dabei sind sie sich in der Sache sehr ähnlich. Das fällt nur nicht so auf, weil sie als Personen verschieden sind. Sarkozy ist viel aggressiver, hetzt nicht erst seit den Morden von Toulouse gegen Einwanderer, Hollande gibt sich weniger demagogisch und setzt mehr auf Seriosität.

Hollande als Kandidat der Sozialisten forderte mit 75 Prozent Einkommenssteuer für Hochverdiener eine radikalere Besteuerung als jeder Linke in Deutschland.

Das wird vom Kandidaten vermutlich heißer gekocht, als es unter einem Präsidenten Hollande gegessen würde. Ohnehin gibt es in Frankreich so viele Steuernischen, dass kein Reicher je den Höchstsatz zahlt. Sarkozy, der die Finanzmarktsteuern in der EU erhöhen will, ist im Prinzip sicher nachgiebiger gegenüber den Reichen und er schürt in der Endphase des Wahlkampfs die Ängste des weißen, konservativen Bürgertums gegenüber Immigranten, Muslimen oder den Roma. Sarkozy fischt offen im Wählerreservoir des rechten Front National von Marine Le Pen, während Hollande mit diesen Themen zivilisierter umgeht.

Also gibt es doch Unterschiede.

Es gibt sie viel weniger, wenn man die Wahlkampfrhetorik abzieht. Gemein ist beiden, dass sie nicht an die grundlegenden Probleme oder Tabus der französischen Politik und Zeitgeschichte rühren.

Welche sind das?

Es gibt keine wirklichen Programme gegen die Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit, die doppelt so hoch ist wie in Deutschland. Steigende Armut und Staatsverschuldung sind keine zentralen Wahlkampfthemen. Hollande wirkt hier als Herausforderer nur defensiv. Und selbst nach dem Unglück von Fukushima steht die Atomindustrie trotz Sicherheitsproblemen und der ungewissen Lagerung des Atommülls nicht zur Debatte.

"Eine Selbstbesinnung in Frankreich hat nie stattgefunden"

Letztes Jahr gab es kritische Stimmen.

Nur kurz. Frankreich ist zu 80 Prozent abhängig vom Atomstrom, selbst die Grünen wagen nicht, dies ernsthaft zu diskutieren. Hollande spricht vage davon, den Anteil binnen 30 Jahren auf 50 Prozent zu reduzieren, also weit jenseits einer möglichen eigenen Regierungszeit. Sarkozy möchte für die Atomindustrie als „saubere Energie“ sogar EU-Subventionen, wie für die Solarwirtschaft. Noch 2010 soll er versucht haben, ausgerechnet Gaddafi in Libyen einen Atomreaktor zu verkaufen. Aber auch die französische Außenpolitik, vor allem die Afrikapolitik ist tabu. Man lässt sich als Unterstützer der Arabellion in Nordafrika feiern, polemisiert im Inneren gegen die aus Nordafrika stammenden eigenen Staatsbürger und schließt einen Militärpakt mit der Elfenbeinküste: einer Exkolonie mit einer durch Waffengewalt eroberten Präsidentschaft.

In einem Essay in der Zeitschrift „Lettre International“ haben Sie geschrieben, auch die Fünfte Republik, die eigene Staatsverfassung, sei ein Tabu. Inwiefern?

Weil niemand daran rührt, dass Frankreich von einem Präsidenten beherrscht wird und nicht von einer vom Parlament gewählten Regierung.

Das Parlament wird wie der Präsident vom Volk gewählt.

Die Parlamentswahlen sind sekundär und finden erst nach der Präsidentenwahl statt. Faktisch haben wir eine monarchistische Republik. Der französische Präsident hat das letzte Wort bei allen Gesetzesvorlagen und das erste Wort bei den Richtlinien der Politik. Er bestimmt die Außen- und Sicherheitspolitik, nicht der Ministerpräsident, nicht der Außen- oder Verteidigungsminister. Sarkozy hat zudem durchgesetzt, dass er als Präsident, ohne jede Kontrolle, die Intendanten des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens ernennt. Das konnte nicht einmal Berlusconi in Italien. Frankreichs Präsident hat funktional weit mehr Macht als sein amerikanischer Kollege. Wahrscheinlich ist das nur mit dem Präsidialsystem Putins vergleichbar.

Im Wahlkampf spielt auch das „modèle allemand“ eine Rolle. Gibt es wirklich das deutsche Vorbild?

Sarkozy ist der erste französische Präsident, der Deutschland offen bewundert. Hätte er genauso viel Exportüberschuss und so wenig Arbeitslosigkeit, müsste er nicht um seine Wiederwahl bangen. Als Neuestes schlägt er nun vor, die deutsche Form der Mietpreisbindung nach Frankreich zu importieren, nachdem er noch im Januar gesagt hat, so etwas habe noch nicht einmal in der Sowjetunion funktioniert. Die Wahlen machen es möglich!

Wird an grundlegende Probleme auch deshalb nicht stärker gerührt, weil man noch immer der Idee der „Grande Nation“ anhängt und kein Politiker den Nationalstolz der Franzosen verletzen möchte?

Tatsächlich ist es in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Verlust des eigenen Kolonialreichs nie zu einer wirklichen Selbstreflexion gekommen. In Deutschland waren Schuld, Verbrechen und Unheil nach 1945 evident, und die Alliierten haben den Deutschen, mit mehr oder weniger Erfolg, die Selbstbesinnung und den Neuanfang verordnet. Eine Selbstbesinnung in Frankreich hat aber nie stattgefunden. Das lag schon daran, dass sich Frankreich 1945 entgegen aller Wahrheit zu den Siegermächten zählen durfte. Frankreichs historisches Bewusstsein ist voller Geschichtsblindheit.

Woran erkennen Sie das?

Als bisher einziger Staatspräsident hat Jacques Chirac über Frankreichs Mitschuld an der Ermordung von über 70 000 französischen Juden durch Nazideutschland gesprochen. Die Franzosen mussten ihren eigenen Rassismus und auch Antisemitismus nie reflektieren. Die Kollaboration mit den Nazis wurde ja nicht nur erzwungen, sie geschah mit breiter Zustimmung. Marschall Petain ...

... der Held von Verdun im Ersten und Präsident der mit Hitler kollaborierenden Vichy-Regierung im Zweiten Weltkrieg ...

... war ein Volksheld, über alle Parteien hinweg. Das Vichy-Regime, das die Verfolgung der Juden und des Widerstands aktiv betrieben hat, ist nicht von innen, nicht durch die Franzosen zusammengebrochen, sondern nach der Landung der Amerikaner und Engländer in der Normandie. Sie haben die Deutschen besiegt.

Der Anteil der Résistance wird Ihrer Meinung nach übertrieben?

Die Résistance war eine tapfere Minderheitsbewegung. Die Mehrheit war kollaborativ oder gleichgültig, viele haben von den Deutschen und der Vertreibung der Juden profitiert. General de Gaulle hat seine Rolle als Chef der Exilregierung und die Wirkung der Résistance von Anfang an heroisiert. Man wollte die demütigende Niederlage der eigenen Armee 1940 gegen die Wehrmacht vergessen machen. Ideologisch aber stand de Gaulle dem Marschall Petain durchaus nah. Von de Gaulle gibt es jede Menge rassistische, sogar judenfeindliche Äußerungen. Auch war er willfährig gegenüber dem skandalösen Wunsch der Amerikaner, bei der Siegesfeier 1945 in Paris nur weißhäutige Soldaten paradieren zu lassen. Obwohl Frankreichs Armee in den unteren Rängen zu großen Teilen aus Nord- und Schwarzafrikanern aus den Kolonien bestand.

Zinedine Zidane ist der beliebteste Franzose

Sie sind in Ihren Essays auch der Rolle des späteren sozialistischen Präsidenten François Mitterrand nachgegangen.

Mitterrand arbeitete ab 1942 für Petain in der Vichy-Administration, bevor er zum Widerstand stieß. Seine Rolle blieb dubios, zumal er mit René Bousquet befreundet blieb, der als Polizeichef von Vichy 1942/43 die Juden jagen ließ und über 60 000 an die Deutschen auslieferte. Als Präsident versuchte Mitterrand jahrelang, einen Prozess gegen Bousquet zu verhindern, und lud ihn noch in den Elysée-Palast ein. Erst als Bousquet 1991 fast sechs Jahrzehnte verspätet angeklagt wurde, brach Mitterrand den Kontakt ab.

Die bürgerlichen Eliten, auch die Intellektuellen nehmen noch immer für sich in Anspruch, die Heimstatt der Ideale der Französischen Revolution zu sein, von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Das steht in der Verfassung. Natürlich gibt es das wunderbare Frankreich der Aufklärung und Zivilisiertheit, gibt es noch couragierte und kosmopolitisch denkende Menschen. Aber selbst die frühere Herzlichkeit auf dem Land geht langsam in Misstrauen und Hysterie über. Sarkozy hat schon 2007 die Wahl mit seinen Hetzreden gegen die aufbegehrenden Bewohner der Banlieues gewonnen, gegen die Unterprivilegierten und Migranten.

Auch Zinedine Zidane, in Algerien geboren, ist ein Migrant – und Frankreichs berühmtester Fußballspieler. Ein Volksheld.

Zidane liegt in allen Umfragen an der Spitze der beliebtesten Franzosen, wie der frühere Tennisstar und Popsänger Yannick Noah, dessen Familie aus Kamerun stammt. Aber das ist ja häufig so, dass für Sportler, Musiker, Popsänger ein exotischer Sonderstatus gilt. Selbst rassistische Anhänger des Front National waren stolz, als Frankreich 1998 mit Zidane und Henry Thierry Weltmeister wurde. Trotzdem hat Frankreich die Schatten seiner Kolonialpolitik nach dem Ende des Algerienkrieges nicht selbstreflexiv beleuchtet. Es gab intellektuelle Debatten, aber die haben nie das allgemeine Bewusstsein erreicht. Es ist bis heute ein offiziell verdrängter Skandal, dass es am 17. Oktober 1961 mitten in Paris einen staatlichen Massenmord gegeben hat.

Das ist uns auch in Deutschland nicht gewärtig.

Damals hatten Mitglieder der algerischen Widerstandbewegung FLN friedlich gegen eine auf die Nordafrikaner in Paris begrenzte Ausgangssperre demonstriert. Polizei und Militär gingen unglaublich brutal gegen die Menschen vor, es wurden Maschinengewehre eingesetzt, es gab über 200 Tote, die ebenso wie die Verletzten zu Dutzenden in die Seine geworfen wurden, während die am Fluss wohnenden Pariser die Fensterläden schlossen. Berichte in den Zeitungen gab es wenige, weil damals Militärzensur herrschte. Organisiert hatte das der Pariser Polizeipräfekt Maurice Papon, der im Krieg als hoher Beamter der Vichy-Regierung bereits für Judendeportationen verantwortlich war. Nach dem Massaker wurde er noch Schatzmeister der gaullistischen Partei und französischer Finanzminister. Erst 1998 hat man ihn als Kollaborateur zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er nur drei absitzen musste.

Haben Sie selbst Antisemitismus erfahren?

Nein. Es gibt den Anti-Israelismus in den Banlieues unter islamischen Immigranten, wenn sie sich mit den Palästinensern solidarisieren. Aber offiziell ist Antisemitismus kein Thema, er hat auch in der Affäre Strauss-Kahn nie eine Rolle gespielt. Viel verbreiteter sind Vorurteile gegen Araber und Roma.

Was ist der Kern dieser Widersprüche?

Frankreich beschwört und verdrängt seine Geschichte, weil es als ehemalige Welt- und Kolonialmacht seiner heutigen realen Rolle nicht ins Gesicht sieht. Alle Politiker berufen sich in ihren Reden auf die vergangene Größe, auf Napoleon oder de Gaulle, und preisen Frankreichs zivilisatorische Errungenschaften. Es ist wie bei einem alten Menschen, der vor den Spiegel tritt und sich schminkt, eine Perücke aufsetzt und schöne Kleider anzieht, um sich anders zu sehen, als er ist.

Das Gespräch führte Peter von Becker

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